Diese Geschichte beginnt mit einer absurden Hoffnung. Zumindest wirkt sie im Rückblick widersinnig. Es ist der Sommer 2020. In Belarus protestieren Zehntausende gegen die Gewaltherrschaft von Dauermachthaber Alexander Lukaschenko. Sie verlangen dessen Rücktritt und einen demokratischen Neuanfang. Vom Westen erbitten sie Unterstützung, erwarten aber wenig. Sie schwenken auch keine EU-Flaggen wie einst die Demonstranten in Kiew. Auf den Straßen von Minsk hegen die Menschen stattdessen die leise Hoffnung, dass ihnen der mächtige russische Präsident zu Hilfe eilen könnte. „Wladimir Putin hätte als Vermittler die Chance, das belarussische Volk für sich zu gewinnen“, sagt damals die Politikwissenschaftlerin Olga Dryndova, die in Bremen forscht.
Putin galt in Belarus einmal als Hoffnungsträger
Knapp zwei Jahre später ist es schwer zu fassen, dass ausgerechnet Putin in Belarus als Hoffnungsträger gelten konnte. Schließlich lässt der Kremlherrscher seit sechs Wochen mit größter Brutalität einen Angriffskrieg in der Ukraine führen. Aber die Wissenschaftlerin Dryndova war 2020 keineswegs die Einzige, die russische Vermittlung für möglich hielt. Auch die Opposition um Swetlana Tichanowskaja appellierte an Putin, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen, um Lukaschenko zum Amtsverzicht zu drängen. Und dafür gab es durchaus Gründe. So hatte ursprünglich der Gazprom-Banker Wiktar Babaryka bei der Präsidentschaftswahl in Belarus antreten wollen. Der mächtige Manager pflegte enge Kontakte nach Moskau. Auch deshalb ließ Lukaschenko ihn inhaftieren – und provozierte damit Putin.
Putin macht Belarus zum Aufmarschplatz für seine Armee
Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Lukaschenko ließ prügeln und foltern und unterdrückte alle Proteste. Mit russischer Hilfe. Er isolierte sich endgültig vom Westen und lieferte sich dem Kreml aus. Putin wiederum nutzte den gewachsenen Einfluss nicht etwa, um die Menschen in Belarus „für sich zu gewinnen“. In der Realität machte Putin das strategisch wichtige Belarus zum Aufmarschplatz für seine Armee. Am 24. Februar stießen die russischen Truppen von dort aus Richtung Kiew vor. Es sollte der zentrale „Enthauptungsschlag“ gegen die ukrainische Führung werden.
Das Lukaschenko-Regime war also von Anfang an Kriegspartei. Und mehr noch: Der Mann, den sie lange den „letzten Diktator Europas“ nannten, ließ kurz nach Beginn der Invasion ein „Referendum“ über die dauerhafte Stationierung russischer Truppen in Belarus inszenieren. Eine Farce, darüber waren sich Fachleute schnell einig. Doch die angebliche Zweidrittelmehrheit gab Putin freie Hand, sogar Nuklearstreitkräfte nach Belarus zu verlegen.
Damit schien alles klar zu sein. Anfang März erwarteten die meisten Beobachter ein baldiges Eingreifen von Lukaschenkos Soldaten in den Krieg. Doch der Marschbefehl aus Minsk blieb aus. Seither rätseln Fachleute, was zwischen Putin und Lukaschenko passiert ist. Beide trafen sich am 11. März und sprachen fünf Stunden miteinander. Worüber? Der im Exil lebende belarusische Politanalyst Waleri Karbalewitsch glaubt, Lukaschenko habe sich schon vor Kriegsbeginn „für alle Fälle und Lebenslagen gewappnet und sich alle Handlungsoptionen offengehalten“. Sein Auftritt in Moskau sei „ein Meisterwerk der politischen Mimikry“ gewesen. Lukaschenko habe im öffentlichen Teil „Ergebenheit geheuchelt“, um hinter verschlossenen Türen seine Trümpfe auszuspielen. War also alles nur Tarnung, um sich am Ende aus Putins Klammergriff zu befreien?
Lukaschenkos Rolle als Friedensstifter ist längst nicht mehr glaubwürdig
Karbalewitschs Kollege Pawel Mazukewisch sagt: „Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko Belarus als Verhandlungsort wiederbeleben will, um seinen Ruf als Schurke loszuwerden.“ Und wirklich: Die ersten russisch-ukrainischen Verhandlungen über ein mögliches Kriegsende fanden Anfang März in Belarus statt. Schon 2014/15 war Minsk der Ort gewesen, in dem über eine Friedenslösung für den Donbass verhandelt wurde. Damals arbeitete sich Lukaschenko, der die russische Krim-Annexion nicht anerkannte, aus der internationalen Isolation heraus. Der Westen hob Sanktionen gegen Belarus auf. Doch mit dieser „Schaukelpolitik“ klassischer Schule sei es endgültig vorbei, glaubt der ehemalige Minsker Diplomat Pawel Sljunkin: „Allen ist doch klar, dass Lukaschenko weder Friedensstifter noch eine dritte Partei ist. Er ist in der Ukraine ebenso Aggressor wie Russland.“
Warum Lukaschenko dennoch nicht in den Krieg eintritt
In dieser Lage gibt es zwei Erklärungsansätze für Lukaschenkos beharrliche Versuche, seine Armee aus dem Krieg herauszuhalten. In Version A befürchtet der Machthaber vor allem ein erneutes, diesmal gewalttätiges Aufflammen der Proteste in Belarus. Tatsächlich häufen sich seit Kriegsbeginn Sabotageakte gegen militärische Infrastruktur im Land.
In Version B spielen persönliche Motive die zentrale Rolle. Pawel Latuschko, der einst Minister in Minsk war, bevor er sich der Opposition anschloss, sagt über Lukaschenko: „Er ist ein rachsüchtiger Mensch.“ Viele Beobachter halten es deshalb für möglich, dass Lukaschenko auf Vergeltung sinnt, um Putin die Schmach des Protestsommers 2020 heimzuzahlen. Damals musste er sein Schicksal in die Hände des Kremlchefs legen. Und unter Diktatoren, so der Gedanke, verzeiht man keine Schmach.