50 Tage ist es her, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine in einen Krieg gezwungen hat. 50 Kriegstage, in denen mehr als 1700 Zivilisten in der Ukraine gestorben sind, fast doppelt so viele verletzt wurden, rund 4,8 der ehemals 44 Millionen Einwohner ihre Heimat verlassen haben. Die Hoffnungen, dass Friedensgespräche zwischen Kiew und Moskau die Kämpfe rasch beenden könnten, haben sich in Luft aufgelöst. Im Gegenteil: Beobachter rechnen in diesen Tagen mit einer Großoffensive der russischen Truppen im Osten. Die seit Wochen heftig umkämpfte Hafenstadt Mariupol steht wohl vor dem „letzten Gefecht“.
Auf dem Messengerkanal Telegram dankte Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen Landsleuten für 50 Tage Widerstand gegen Russland. „Gott sei Dank, den Streitkräften der Ukraine und unserem Volk – wir haben den größten Teil unseres Landes verteidigt“, sagte er in einer Videobotschaft. „50 Tage unserer Verteidigung sind eine Leistung. Eine Leistung von Millionen von Ukrainern.“ Er erinnere sich an den ersten Tag der russischen Invasion in die Ukraine. „Um es milde auszudrücken: Niemand war überzeugt, dass wir bestehen würden.“ Viele hätten ihm geraten, das Land zu verlassen. „Sie haben dazu geraten, dass wir uns de facto der Tyrannei ergeben.“ Sie hätten aber die Ukrainer nicht gekannt und nicht gewusst, wie mutig diese seien und wie sehr sie Freiheit schätzten, „so zu leben, wie wir wollen“.
Selenskyj hat die Warnungen von Moskau nicht ernst genommen
Tatsächlich gehörte es aber auch zu den größten Fehleinschätzungen Selenskyjs, die Angriffsdrohungen Russlands und die Warnungen vor allem aus Washington nicht ernst genommen zu haben. „Der ukrainische Präsident ging von der falschen Vorstellung aus, dass der Aufmarsch nur eine Drohkulisse sei und Russland tatsächlich nicht den Krieg eröffnen werde“, analysiert Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK). Folge dieser Fehleinschätzung sei gewesen, dass die Mobilmachung viel zu spät kam und die ukrainischen Streitkräfte teilweise überrascht wurden. „Dadurch war es den russischen Verbänden in den ersten Tagen möglich, erhebliche Vorstöße durch mechanisierte Verbände durchführen zu lassen und Geländegewinne zu erzielen“, so Krause. Die russischen Vorstöße blieben aber infolge logistischer Mängel und Defiziten bei der Kommunikation stecken – denn auch Russland unterlag in diesem Krieg einer falschen Annahme.
„Die russische Führung ging davon aus, dass der Krieg angesichts der unterlegenen Streitkräfte des Gegners leicht zu gewinnen sei und die Ukrainer nach der erfolgreichen Absetzung der ukrainischen Regierung durch Luftlandetruppen die russischen Soldaten entweder begrüßen würden oder sich passiv verhielten“, glaubt der Sicherheitsexperte. „Die unbedingte Verteidigungsbereitschaft der Ukrainer passte nicht in das russische Propagandabild.“ Aber auch die Erfahrungen mit der weitgehenden Passivität der Ukrainer aus Anlass der Krim-Besetzung 2014 könnten eine Rolle gespielt haben. Die Folge ist ein Abnutzungskrieg, der auch den russischen Truppen stark zusetzt. Auch deshalb gehen Experten davon aus, dass die Sorge des Westens, Putin könnte bei weiteren Waffenlieferungen den Krieg eskalieren lassen, überzogen sei – der russische Präsident habe gar nicht mehr die militärischen Mittel. „Es ist auch nicht davon auszugehen, dass Russland Kernwaffen einsetzen wird, um die Ukraine zu unterwerfen“, glaubt Joachim Krause.
Das wichtige russische Kriegsschiff "Moskwa" ist gesunken
Zuletzt musste Putin einen ganz massiven Schlag für seine Armee verbuchen: Das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, der Raketenkreuzer „Moskwa“, ist gesunken. Was dahintersteckt, bleibt weitgehend unklar. Der Kreml spricht von einem Sturm, Kiew von Raketentreffern. Doch unabhängig davon, ist der Vorfall für den russischen Präsidenten ein Verlust: Der Raketenkreuzer galt als Dreh- und Angelpunkt der Luftverteidigung der Schwarzmeerflotte. Dass das Schiff sank, könnte die Moral der ukrainischen Streitkräfte heben und zudem ein Propagandasieg für Kiew sein.
Entsprechend nervös ist die Stimmung in Moskau. Putin wirft dem Westen angebliche Zahlungsausfälle für die Gaslieferungen vor – und schürt damit die Sorge, dass es am Ende Russland sein könnte, das den Gashahn zudreht. „Es sind Zahlungsausfälle bei Exportlieferungen russischer Energieressourcen zu beobachten“, sagte er bei einer Sitzung zur Entwicklung des russischen Energiesektors, die in Teilen im Staatsfernsehen übertragen wurde. Wo genau die Probleme liegen sollen, blieb offen. Deutlich äußerte sich Putin aber zu den in der EU immer lauter werdenden Forderungen nach einem Embargo gegen Gas und Öl: „Die Folgen eines solchen Schrittes können sehr schmerzhaft werden – vor allem für die Initiatoren einer solchen Politik.“
Wie lange werden die Sanktionen aufrecht erhalten?
Zugleich erhöhte Kiew den Druck auf Berlin, die russischen Energielieferungen zu stoppen. Deutschland sowie Ungarn hätten ein Embargo blockiert, sagte Selenskyj der BBC. „Wir verstehen nicht, wie man mit Blut Geld verdienen kann. Leider ist es das, was einige Länder tun.“ Nun müsse mit diesen Ländern gesprochen werden, um deren Haltung zu ändern. „Einige unserer Freunde und Partner verstehen, dass jetzt eine andere Zeit ist, dass es nicht länger um Geschäfte und Geld geht. Dass es eine Frage des Überlebens ist“, betonte der Staatschef.
Für Deutschland wird es nicht das letzte Spannungsverhältnis sein, – selbst dann, wenn eines Tages so etwas wie Frieden in seiner östlichen Nachbarschaft herrschen sollte. „Nach einem Waffenstillstand werden vermutlich in Deutschland Forderungen nach Aufhebung von Sanktionen laut werden“, sagt der Kieler Sicherheitsexperte Joachim Krause. „Sie dürften damit begründet werden, dass Deutschland eine Vermittlerrolle zwischen der Ukraine und Russland einnehmen müsse und dass man nur dann glaubhaft als Vermittler auftreten könne, wenn man mit beiden Seiten gesprächsfähig sei.“
Dem müsse Bundeskanzler Olaf Scholz entgegentreten – auch, weil es wahrscheinlich sei, dass die Forderungen vor allem aus dessen eigener Partei, aus der SPD, kommen werden. Erst ein Regimewechsel im Kreml, so Krause, könne ein geeigneter Zeitpunkt sein für eine Rückkehr zu einer partnerschaftlichen Russlandpolitik.
Auch an eine Entschädigung der Ukraine könnten Bedingungen geknüpft werden. „Der Schaden an Infrastruktur, Wirtschaft und Gebäuden dürfte Anfang April schon in der Größenordnung von 100 Milliarden US-Dollar liegen, das ukrainische Wirtschaftsministerium geht schon von Kriegsschäden in der Größenordnung von 500 Milliarden Dollar aus“, so Krause. „Ohne eine entsprechende Verpflichtung Russlands darf es keine Aufhebung der Sanktionen geben.“ Denn eines müsse sich die Welt klarmachen: „Das derzeitige Regime in Moskau wird in seiner Aggressivität nicht nachlassen und wird daher versuchen, die Bedingungen dafür zu schaffen, die Ukraine ein zweites Mal zu überfallen – und zwar dann erfolgreicher.“
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.