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Krieg im Nahen Osten: Was der Rückzug der Armee aus dem Süden des Gazastreifens bedeutet

Krieg im Nahen Osten

Was der Rückzug der Armee aus dem Süden des Gazastreifens bedeutet

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    Ein Palästinenser kommt mit einer Reisetasche nach dem Rückzug der israelischen Streitkräfte in das teilweise zerstörte Chan Junis zurück.
    Ein Palästinenser kommt mit einer Reisetasche nach dem Rückzug der israelischen Streitkräfte in das teilweise zerstörte Chan Junis zurück. Foto: Mohammed Talatene, dpa

    Das Grauen begann mit dem schlimmsten Massaker an Juden seit dem Holocaust, seither tobt der längste und blutigste Krieg, den Israel seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1948 erlebt hat. Die Zahl der Toten im Gazastreifen steigt mit jedem Tag: Mehr als 33.000 Menschen wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher im Gazastreifen getötet und knapp 76.000 weitere verletzt. Auf der israelischen Seite wurden seit dem 7. Oktober insgesamt mehr als 1500 Menschen getötet, darunter 600 Soldaten. Mehr als 15.000 erlitten Verletzungen.

    Nun kommt offenbar zumindest Bewegung in den festgefahrenen Konflikt. Israel hat am Wochenende den Einsatz seiner 98. Kommandodivision in Chan Junis vorläufig beendet, alle Soldatinnen und Soldaten haben den südlichen Teil des Gazastreifens verlassen. Es ist kein kompletter Rückzug aus dem Gebiet, im Norden des Landstreifens ist die israelische Armee weiter präsent, auch der Korridor, der aus dem Norden in den Süden führt, wird militärisch von israelischen Truppen gesichert. Und doch könnte der Rückzug aus Chan Junis ein Zeichen sein – auch für den künftigen Verlauf des Krieges. Gleichwohl könnte der anders sein als von der israelischen Regierung öffentlich vorgetragen. 

    Bodenoffensive in Rafah wird unwahrscheinlicher

    „Die Truppen verlassen den Gazastreifen und bereiten sich auf ihre nächsten Einsätze vor. Wir haben Beispiele für solche Einsätze bei der Schifa-Operation gesehen und auch für ihren kommenden Einsatz in der Gegend von Rafah“, sagte Verteidigungsminister Joaw Galant. Doch wie glaubwürdig ist das? „Politisch und militärisch engt der Rückzug aus Chan Junis den Handlungsspielraum Israels für eine großangelegte Bodenoffensive in Rafah ein“, sagt Stephan Stetter, Nahost-Experte an der Universität der Bundeswehr München. Dazu müsste sich die Armee erst wieder massiv bündeln. „Tatsächlich hatten sich die militärischen Aktivitäten der Armee im Süden des Gazastreifens schon in den vergangenen beiden Wochen abgeschwächt. Das alles spricht nicht für eine große Offensive in Rafah“, sagt der Experte. Zuletzt hatten vor allem die USA immer dringlichere Warnungen an die Regierung von Benjamin Netanjahu gerichtet, den Ort im Süden des Gazastreifens anzugreifen. Hier halten sich Zehntausende Menschen auf. US-Präsident Joe Biden hatte Netanjahu klargemacht, dass ein Einmarsch dort ohne vorherige Evakuierung der Zivilisten eine „rote Linie“ für ihn wäre. 

    Der Premier steckt zunehmend in der Zwickmühle: Auf der einen Seite kommt Druck aus den USA, auf der anderen Seite Druck aus der eigenen Regierung. „Netanjahu treibt ein doppeltes Spiel“, sagt Stetter. „Sein klassisches Vorgehen ist es, auf Englisch das eine zu sagen und auf Hebräisch das andere.“ So versucht er, die internationalen Partner zu besänftigen und zugleich die ultrarechten Koalitionspartner bei Laune zu halten. „Dazu gehört es, ohne Rücksicht auf humanitäre Belange, im Gazastreifen vorzugehen“, sagt der Experte. Netanjahu ist auf seine Koalitionspartner angewiesen, sollten die das Bündnis platzen lassen, müsste er um sein Amt bangen, in der Bevölkerung hat er längst keine Mehrheit mehr. Solange der Krieg andauere, seien Neuwahlen weniger wahrscheinlich, schreibt das US-Nachrichtenportal Axios

    Rechte Koalitionspartner setzen Netanjahu unter Druck

    Seinen Partnern ist Netanjahus Ohnmacht durchaus bewusst. Der Polizeiminister Itamar Ben-Gvir von der rechtsextremen Partei Otzma Jehudit schrieb auf der Plattform X: „Wenn der Ministerpräsident entscheiden sollte, den Krieg zu beenden, ohne einen breiten Angriff auf Rafah, um die Hamas entscheidend zu schlagen, wird er kein Mandat haben, weiter als Regierungschef zu amtieren.“ 

    Und so bemüht Netanjahu weiter die Parole vom „totalen Sieg“. „Doch nach dem sieht es nicht aus“, warnt Stetter. „Israel hat seine Kriegsziele bislang nicht erreicht.“ Weder sei die Hamas ausgeschaltet, noch seien die Geiseln befreit. „Die Hamas ist sicherlich geschwächt und sie hat hohe Verluste zu beklagen“, sagt Stetter. Aber selbst die Hamas-Spitze konnte bislang nicht eliminiert werden. Ähnlich sieht es bei den Menschen aus, die sich noch immer in der Hand der Hamas befinden: Mehr als 100 Geiseln werden von den Terroristen noch festgehalten. „Die Geiseln werden von Netanjahu eigentlich gar nicht mehr erwähnt, man hat fast das Gefühl, er vergisst sie“, sagt Stetter. „Dabei nimmt die Ungeduld der israelischen Öffentlichkeit in dieser Frage zu – auch über den Kreis der Angehörigen hinaus.“ Immer wieder kommt es zu Demonstrationen. 

    Hoffnung auf Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas

    Hoffnung dürften ihnen Nachrichten machen, die aus Ägypten verbreitet werden. Demnach seien sich Israel und die Hamas in der Frage nach einer Waffenruhe nähergekommen. Es gebe eine Einigung über die grundlegenden Punkte zwischen allen beteiligten Parteien, berichtete der staatliche ägyptische Fernsehsender Al-Kahira unter Berufung auf eine ranghohe ägyptische Quelle. Der katarischen TV-Sender Al-Dschasira dämpfte allerdings die Erwartungen: Die israelische Delegation sei auf keine der Forderungen der Terrororganisation eingegangen. Laut Al-Kahira haben die Delegationen der islamistischen Hamas und Katars Kairo verlassen, und sie wollten innerhalb von zwei Tagen zurückkehren, um sich auf die Bedingungen des endgültigen Abkommens zu einigen. Die Gespräche sollten in den nächsten 48 Stunden fortgesetzt werden, hieß es. Israel und die Hamas reden nicht direkt miteinander, die USA, Katar und Ägypten fungieren als Vermittler. 

    Eine Einigung auf eine Feuerpause könnte zudem die Eskalation stoppen. Iranische und israelische Medien verbreiteten eine Meldung der iranischen Internetseite Jadeh Iran, wonach Teheran den USA angeboten haben soll, auf einen Vergeltungsschlag gegen Israel zu verzichten, wenn es eine Feuerpause in Gaza gibt. Vergangene Woche waren unter anderem zwei iranische Brigadegeneräle bei einem Raketenangriff Israels auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus getötet worden. Iran drohte mit Vergeltung.

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