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Krieg im Nahen Osten: Juden und Muslime in Deutschland: Die tragische Geschichte einer Entfremdung

In Deutschland treffen derzeit die Sorgen von Juden und Muslimen aufeinander.
Krieg im Nahen Osten

Juden und Muslime in Deutschland: Die tragische Geschichte einer Entfremdung

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    Der Schriftzug ist in weiß-blau gehalten, mit Lichtern wird er auf das Brandenburger Tor im Herzen der deutschen Hauptstadt gestrahlt: „Nie wieder ist jetzt!“ Es ist die wuchtige Maxime, auf die sich die Gesellschaft verpflichten soll. Gleichzeitig ist der Satz ein Symbol der Hilflosigkeit. Der deutsche Staat bemüht sich sichtbar um den Schutz jüdischen Lebens. Und bleibt doch ohnmächtig. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich erinnert an ein düsteres Damals. Viele leben wieder in Angst. Wie lässt sich Antisemitismus verhindern, ist die Frage, die über allem thront. Zugleich macht sich auch unter vielen Muslimen im Land ein flaues Gefühl breit. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich von der Hamas distanzieren. Zugleich zerreißt es viele fast, wenn sie die Bilder der leidenden Menschen im Gazastreifen sehen. Und die Mehrheit der Deutschen? Sie steht dem Konflikt, der sich da plötzlich auch in ihrer Heimat abspielt, zumeist ratlos gegenüber. Eine Spurensuche.

    Chaja Lichtental hat Angst vor Übergriffen, sie will nicht, dass ein Bild von ihr öffentlich zu finden ist.
    Chaja Lichtental hat Angst vor Übergriffen, sie will nicht, dass ein Bild von ihr öffentlich zu finden ist. Foto: Christian Imminger

    Komplett sicher? So hat sich Chaja Lichtental in Deutschland eigentlich nie gefühlt. „Wie sollte ich? Wann immer ich in die Synagoge gehe, ist sie von der Polizei oder privaten Sicherheitsdiensten bewacht“, sagt die 47-Jährige.

    Chaja Lichtental, die in diesen Zeiten ihren richtigen Namen nicht nennen will, erzählt das in einem Café im Glockenbachviertel. An den Tischen nebenan trinken die Gäste Frucht-Smoothies, essen Frühstück mit Spiegelei, erzählen von ihrem Wochenende. Normales Leben eben. Lichtental erzählt von ihrem Gedanken, aus Deutschland wegzugehen.

    „Mein Mann und ich denken darüber nach, ob es hier in Deutschland für unsere Familie weitergehen soll. Ob unsere vier Kinder hier eine Zukunft haben. So wie es jetzt ist, so wollte ich sie nie aufwachsen sehen.“

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    So wie es jetzt ist, das heißt: Wenn die Trainer im Selbstverteidigungskurs ihrer Söhne plötzlich antiisraelische Beiträge auf ihren Instagram-Profilen teilen. Wenn ihre Mitschüler den Israelis die Schuld am Krieg geben und die Lehrer nichts dagegen sagen. Wenn in Bayern so viele antisemitische Vorfälle angezeigt werden, dass die Meldestelle mit dem Zählen gar nicht mehr hinterherkommt. Bei einer antiisraelischen Demo in München am Wochenende verfolgten Teilnehmende Kameraleute durch die Stadt, nachdem jemand sie vermeintlich als Juden identifiziert hatte.

    Rund 200.000 Menschenjüdischen Glaubens leben aktuell in Deutschland – vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 waren es noch 560.000. Und: Seit dem Jahr 2005 geht die Zahl kontinuierlich erneut zurück. 

    Bislang hatte Lichtental immer noch den beruhigenden Gedanken an Israel. Sie wusste, sollte es in Deutschland einmal nicht weitergehen für sie und ihre Familie: „In

    Die Lichtentals haben vier Kinder, drei Söhne, 12, 15, und 17, und eine siebenjährige Tochter. Ihr Vater ist Anwalt, Chaja Lichtental ist für die Kinder da. Und sie engagiert sich bei „Meet a jew“, auf Deutsch: „Lerne einen Juden kennen“, einer Initiative des Zentralrats der Juden. Sie geht an Schulen, erzählt den Kindern und Jugendlichen von ihrem Alltag als Jüdin, von jüdischen Bräuchen und den Gemeinsamkeiten, die etwa Juden und Muslime in ihrem Glauben teilen. Bereichernde Begegnungen seien das immer gewesen, sagt die 47-Jährige, „sie haben mir Zuversicht gegeben“. Derzeit ist von diesem guten Gefühl nicht mehr viel übrig. 

    Die Lichtentals sind nicht tief religiös. „Aber wir feiern jeden jüdischen Feiertag und gehen samstags regelmäßig in die Synagoge. Und wir haben unseren Glauben nie verheimlicht.“ Normalerweise würden die Söhne auf dem Weg zum Gebet ihre Kippa tragen. Jetzt haben die Eltern es ihnen verboten. Die beiden älteren tragen seit ihrer Bar-Mizwa eine Kette mit Davidstern. „Ich habe sie gebeten, die Kette nicht mehr zu tragen.“ Ob sie es beherzigen? „Das weiß ich nicht“, sagt ihre Mutter und man merkt ihr den Zwiespalt an: Die Söhne schützen zu wollen und sie doch selbst über ihr Leben bestimmen zu lassen. Beides gleichzeitig spricht aus ihrem Gesicht mit den fast ungeschminkten Augen. Sie selbst trägt zwar Schmuck, aber keinen mit Davidstern. „Das ist mir nicht wichtig, ich habe nicht das Bedürfnis, meinen Glauben auf diese Weise zu zeigen.“ 

    Die Sorge um ihre Kinder dominiert jetzt das Leben der Lichtentals. Von den beiden Kleineren versucht das Ehepaar, die Zumutungen des neuen Alltags möglichst fernzuhalten. Das gelingt nicht immer. Kürzlich habe ihre Tochter einem der älteren Brüder ein selbstgemaltes Bild gezeigt und gefragt, ob deswegen die „Antisemitisten“ zu ihnen nach Hause kämen. Das Bild zeigte Kinder, Herzen und eine Israelflagge. 

    Unbemerkt von den jüngeren Kindern schreibt das Ehepaar Tag für Tag zahllose Male mit den vielen Verwandten in Israel hin und her, um sicher zu sein, dass es ihnen gut geht. Ein Freund ist unter den Geiseln der Hamas. Und gleichzeitig sagen die Eltern ihren Kindern wieder und wieder: „Die Welt ist nicht so schlimm, wie sie scheint. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hasst Juden nicht.“

    Neben der Angst um ihre Familie, der Sorge um die Angehörigen in Israel, wird Chaja Lichtental noch ein weiteres Gefühl nicht los. „Ich fühle mich alleingelassen. Es ist traurig, von der Gesellschaft so wenig davon zu spüren, dass man eben nicht allein ist als jüdische Minderheit.“ Was sie sich wünschen würde? Chaja Lichtental überlegt lange, länger, gefühlt ewig. „Klarheit“, sagt sie dann. „Ich würde mir wünschen, dass die Menschen ihr Entsetzen klar benennen. Und dass auch in der Schule über den Krieg gesprochen wird.“ Nächste Woche steht sie selbst wieder vor einer Klasse und wird aus ihrem Leben erzählen. Eine Berufsschule ist es diesmal, angehende Polizisten. Welche von denen, die später Synagogen schützen. 

    Yazid Shammout, Vorsitzender der palästinensischen Gemeinde in Hannover, will seine Trauer um die Menschen in Gaza zeigen dürfen.
    Yazid Shammout, Vorsitzender der palästinensischen Gemeinde in Hannover, will seine Trauer um die Menschen in Gaza zeigen dürfen. Foto: Sebastian Gollnow, dpa

    Ohne Polizeischutz wäre auch ein denkwürdiger Termin im Schloss Bellevue niemals denkbar. Zwei riesige Kronleuchter hängen von der Decke, im Hintergrund das gewaltige Kunstwerk Gotthard Graubners, ein wandfüllendes Großformat in Veilchentönen. Als Farbnebel hat es eine Zeitung mal bezeichnet. Und vielleicht passt das ganz gut zum Anlass. Denn über Deutschland hat sich ein Nebel gelegt, aus Beschuldigungen, Ignoranz, Hass, Misstrauen. Im Schloss

    Sehr mitgenommen sei er, sagt Yazid Shammout im Anschluss. Die Ehre, einer der Teilnehmer zu sein, ist groß – doch die Trauer noch größer. Wer sollte sie ihm verwehren? Von mindestens drei Angehörigen weiß er, die bei der Bombardierung Gazas in den vergangenen Wochen getötet worden sind. Vielleicht sind es inzwischen sogar noch mehr. Immer wieder bricht im

    Shammout ist Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde in Hannover und Teil einer Kooperation, die deutschlandweit einmalig sein dürfte. Seit 14 Jahren setzt er sich mit dem Präsidenten des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, für einen friedlichen jüdisch-muslimischen Dialog ein. Das Bündnis machte bundesweit Schlagzeilen, wurde als beispielgebend gefeiert. Doch in dieser einen Frage, da gibt es keinen Kompromiss. Die Angriffe der israelischen Armee auf den Gazastreifen seien ein Kriegsverbrechen, sagt der 63-Jährige. Natürlich, seine Gemeinde verurteile den Angriff der Hamas auf Israel aufs Äußerste und grenze sich entschieden gegen Antisemitismus und die Verherrlichung von Gewalt gegen Israel ab. Aber da sei doch mehr. Viele sehen sich durch die deutsche Debatte in eine Ecke gedrängt. Er beschreibt die aktuelle Stimmung in seiner Gemeinde mit drei Wörtern: „Geprägt von Enttäuschung“. Shammout sagt: „Momentan gerät man als Palästinenser automatisch in einen Verteidigungsmodus. Es reicht, zu sagen, man sei Palästinenser, schon fängt die Stigmatisierung an.“ Schon werde vermutet, man unterstütze die Hamas, bejuble den Tod Tausender Menschen in Israel.

    „Das ist eine Stimmung, die Deutschland massiv beschädigt.“

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    Der Unternehmer ist Träger des Verdienstordens des Landes Niedersachsen, ausgezeichnet für sein Engagement. Er betreibt Seniorenresidenzen. Nun hört er, wie von Politikern der Union Forderungen kommen, Deutsch-Palästinensern die doppelte Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie für Palästina auf die Straße gehen. Shammout ist entsetzt: Die Politik habe so einiges nicht begriffen. Zum Beispiel, dass der Aufschrei Tausender Palästinenserinnen und Palästinenser weltweit kein Jubel über den Terror, sondern Kritik an dem sei, was er jahrzehntelange Menschenrechtsverletzungen nennt. Man müsse doch den Kontext betrachten, bittet er. Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt habe tiefe Wunden im Nahen Osten hinterlassen. Zwischen 175.000 und 225.000 Menschen mit palästinensischen Wurzeln leben in Deutschland, wie viele es genau sind, weiß man nicht.

    Den 63-Jährigen begleitet die Angst, dass im Verborgenen etwas schwelt, was so nie gewollt war. Weder von jüdischen noch von palästinensischen Gemeinschaften. Was es jetzt braucht? Zuhören, ohne zu unterbrechen. Verständnis und gegenseitigen Respekt ohne Verurteilung. Die Toten des anderen zu beweinen. Allerdings nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Empathie und Menschlichkeit. 

    „Vieles fällt in Deutschland momentan direkt unter das Totschlagargument Antisemitismus – ohne genau zu definieren, was Antisemitismus überhaupt bedeute. Wo beginnt er und wo hört er auf?“ Ob schon der Besuch einer friedlichen Pro-Palästina-Demonstration Antisemitismus sei, fragt Yazid Shammout. Seine Stimme überschlägt sich. 

    Deborah Lipstadt ist Historikerin und eine der renommiertesten Antisemitismus-Expertinnen.
    Deborah Lipstadt ist Historikerin und eine der renommiertesten Antisemitismus-Expertinnen. Foto: Gregor Zielke

    Deborah Lipstadt ist eine kleine Frau mit rotblondem Haar und freundlichem Gesicht. Um den Hals hat sie einen bunten Schal gelegt. Das Thema Antisemitismus ist so etwas wie das Lebensthema Lipstadts. Gerade kommt sie vom bayerischen Justizministerium, danach trifft sie sich mit einer Frauenorganisation. Ihr Rat ist gefragt in diesen Tagen. „Es ist schön, hier zu sein“, sagt sie, um sich gleich zu korrigieren. „Nein, eigentlich ist es schrecklich, hier zu sein.“ Lipstadts Reise nach Deutschland ist alles andere als Routine. Die 76-Jährige soll den Deutschen Antworten geben, wo sie selbst nicht weiterwissen. 

    Die Amerikanerin gilt als Ikone der Holocaustforschung, unter Historikern ist sie fast eine lebende Legende. Das Time Magazin nahm sie in diesem Jahr in die Liste der 100 einflussreichsten Personen auf. Einst lieferte sie sich mit dem Holocaust-Leugner und Hitler-Verehrer David Irving vor Gericht eine juristische Schlacht – und ging als Gewinnerin vom Platz. Inzwischen ist sie Antisemitismus-Beauftragte der US-Regierung. Keine, die mutwillig mit dem Feuer spielt. Doch den Ernst der Lage will sie klar benennen. „Wir sind sehr, sehr besorgt“, sagt sie. „Es ist ein Antisemitismus-Tsunami, den wir gerade erleben.“ 

    Wo es früher einige hundert Vorfälle pro Jahr gegeben habe, seien es nun Tausende. Der deutsche Verfassungsschutz-Chef spricht von einer Zäsur. Und das längst nicht nur in Deutschland. „Kein Land ist immun“, sagt Lipstadt. In den USA, in Frankreich, in Spanien, überall kriechen jene aus der Deckung, die ihre antisemitische Gesinnung nun in Israel-Kritik verpacken können. Doch mit politischer Auseinandersetzung habe es eben nichts mehr zu tun, wenn jüdische Restaurants bewacht werden müssen oder Eltern Angst haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein russisches Kulturzentrum angegriffen wurde, seit der Ukraine-Krieg ausgebrochen ist“, sagt sie. Judenfeindlichkeit gehe tiefer, sei stärker vom Hass getrieben. Und seine Fratze zeigt sich keineswegs nur im rechten Lager. „Er kommt von rechts, von links, von Christen und von Muslimen, von Asiaten und Europäern“, sagt sie. Er werte ab, indem Juden als minderwertig, als geldgierig, als verschlagen beschrieben werden. Er werte aber auch auf groteske Weise auf, indem man Juden zuschreibt, sie würden die Welt kontrollieren oder den Geldadel beherrschen. Doch egal, wie der Blick sei, Juden würden immer zu „den anderen“ gemacht. 

    Und nun, Frau Lipstadt? Sie schaut ernst. „Ich kann das Problem nicht lösen, es ist zu alt“, sagt sie. Es ist eine bittere Erkenntnis. Doch welche Patentrezepte sollte sie auch aus dem Hut zaubern? Die Gesellschaft müsse ran – im eigenen Interesse. Und auch, wenn Antisemitismus ein weltweites Phänomen sei, stehe Deutschland in besonderer Pflicht: Das historische Erbe macht den entscheidenden Unterschied. Natürlich habe das Land versucht, mit der Erinnerungsarbeit einen Weg zu gehen, der Antisemitismus greifbar macht, den Opfern ein Gesicht gibt. Gereicht hat es offenbar nicht. „Es ging in der Erinnerungsarbeit zu sehr darum, wie die Juden gestorben sind – und zu wenig darum, wie sie heute leben“, sagt Lipstadt. Dadurch wurde das Problem zu einem Teil einer abgeschlossenen Vergangenheit. Die Erinnerungsarbeit sei dadurch zum Feigenblatt geworden. „Wir haben die Juden zu Dinosauriern gemacht: Sie sind weg und wir sind traurig darüber“, sagt sie. Vom heutigen jüdischen Leben in Deutschland sei aber kaum etwas sichtbar. 

    Abba Naor hat den Holocaust überlebt. Er spricht als Zeitzeuge zu Schülern und Studenten. Und hofft, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
    Abba Naor hat den Holocaust überlebt. Er spricht als Zeitzeuge zu Schülern und Studenten. Und hofft, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Foto: Stephan Rumpf, dpa

    Ein Dinosaurier? Vielleicht ist Abba Naor das wirklich. Auf jeden Fall gehört er einer vom Aussterben bedrohten Art an: Er tourt durch Klassenzimmer, durch Hörsäle, durch Vereinsheime. Der Mann mit den grauen Haaren hat eine Aufgabe – eine, die er sich selbst auferlegt hat. Er ist ein Mahner und erzählt immer wieder vom größten Albtraum seines Lebens. In der Hoffnung, dass er sich nicht wiederholen möge. Sicher ist Naor sich nicht.

    „Diese Geschichte darf nie vergessen werden. Was geschah, kann wieder geschehen.“

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    Naor hat den Holocaust überlebt, er ist Zeitzeuge von Deutschlands dunkelster Stunde. Es gibt Filmdokumentationen über sein Leben, er wurde mit Preisen ausgezeichnet, zum Vizepräsidenten des Comité International de Dachau ernannt. Viele Männer und Frauen wie ihn gibt es nicht mehr, solche, die erzählen können, was sie selbst erlebt haben. Schon bald wird die Shoa nur noch in den Geschichtsbüchern stehen. 

    Auch wenn es vielen so erscheint: Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen wie Naor einen Beitrag leisten zur demokratischen Erziehung ausgerechnet im Land der Täter. Naors eigene Familie reagiert manchmal mit Unverständnis auf dessen Rastlosigkeit, seine Tochter kann die enge Beziehung zu Deutschland nicht nachvollziehen. Aber Frauen seien ohnehin manchmal komisch, sagt er. Nur nicht den Humor verlieren. 

    Naor ist 95. Als er 13 ist, wird er zum ersten Mal mit dem Schrecken der Wehrmacht konfrontiert. Er wird zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern ins Getto in Kaunas (Litauen) verfrachtet. Die Nationalsozialisten erschießen seinen älteren Bruder, deportieren die Familie ins Konzentrationslager Stutthof. Dort sieht Naor seine Mutter und seinen jüngeren Bruder zum letzten Mal – sie werden in Auschwitz vergast. In den Außenlagern des KZ Dachau, in Kaufering und Utting, muss der Bub schwerste Zwangsarbeit verrichten. Im Frühjahr 1945 schicken ihn die Nazis auf einen Todesmarsch, den er nur mit viel Glück überlebt. 1946 wandert Naor nach Israel aus. 

    „Ich suche Freunde für mein Land“, sagt Abba Naor gegen Ende seines Vortrags, den er an diesem grauen Novemberabend in Augsburg hält. Der Bundesligist FCA hat ihn eingeladen, der Raum ist voll. Der Klub betreibt Erinnerungsarbeit. 400 Gäste hören zu, darunter zahlreiche Nachwuchsspielerinnen und -spieler. Sie sind für Naor entscheidend, denn er möchte vor allem die junge Generation erreichen: "Ich möchte, dass Kinder lernen, dass das Leben eine feine Sache ist." Nichts sei es wert, das eigene Leben wegzugeben – schon gar nicht Politik. Und schon gar nicht schlechte Politik. 

    Naor sieht das Dilemma, in dem sich die deutsche Politik befindet. „Man gibt sich sehr große Mühe, beiden Seiten gerecht zu werden“, sagt er. Es sei schwer, das Leid der Palästinenser zu sehen, es sei gut, den Menschen mit Hilfsgütern beizustehen. Und doch ist es ihm wichtig, eines klarzustellen: „Die Palästinenser leiden wegen ihrer eigenen Brüder.“ Die Hamas baut ihre Tunnel unter Krankenhäuser, sie gibt Geld für Waffen statt für Lebensmittel aus. „Die Menschen werden benutzt von der Hamas.“ Was ihn ärgert, ist deshalb so manche Reaktion in der Öffentlichkeit. „Man redet nur noch über die armen Palästinenser“, sagt der 95-Jährige. „Die Hamas hat mehr als 1400 Menschen umgebracht – nur, weil sie Juden sind. Das kann man nicht verzeihen.“ 

    Ob es die nächste Generation schafft? Fünf Enkel und elf Urenkel hat Abba Naor. Eine seiner Urenkelinnen leistete gerade ihren Militärdienst ab, als der Krieg begann. Doch ihre Seele war dem nicht gewachsen, sie bekam Panikattacken, ihr Kommandeur stellte sie frei. Dass ihn die Angst bestimmt, das will Naor dennoch nicht zulassen. „Ich habe schlimmere Zeiten erlebt und bin jetzt 95“, sagt er. „Und ich bin mir sicher, dass auch diese Kinder gut aufwachsen und gute israelische Bürger werden.“ 

    Fatima Sari organisiert pro-palästinensische Demonstrationen in Augsburg.
    Fatima Sari organisiert pro-palästinensische Demonstrationen in Augsburg. Foto: Annette Zoepf

    Auf welcher Seite sie steht, daraus macht Fatima Sari kein Geheimnis. Um ihre Haare hat sie ein Tuch geknotet, in den Farben rot-grün-schwarz. Es sind die Farben der palästinensischen Flagge. Das Grün steht für die Fruchtbarkeit, das Rot für die palästinensische Nation, das Schwarz für den Widerstand. Diesen Widerstand organisiert die junge Muslima derzeit mit. Die 19-Jährige mit den türkischen Wurzeln ist Organisatorin jener Demonstrationen, die sich derzeit jede Woche durch die Augsburger Innenstadt schlängeln. Es ist eine von hunderten Demos, die es seit Ausbruch des Krieges im Nahen Osten gibt. Die meisten davon verlaufen friedlich. 

    Sari hat einen Lautsprecher in der einen, ein Mikrofon in der anderen Hand. Um sie herum haben sich rund 80 Menschen versammelt. Jüngere und ältere Muslime, Mitglieder der antiimperialistischen Linken: Es ist eine Gruppe, die sonst in ihren politischen Einstellungen wohl eher wenige Berührungspunkte hat, im Krieg bilden sich ungewöhnliche Allianzen. Was sie eint: Sie wollen „Freiheit für Gaza“. Sari sagt:

    „Uns ist bewusst, dass viele Menschen gar nicht wissen, was passiert. Und die Medien drehen das dann so, dass Palästina angegriffen hätte."

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    Den Terroranschlag der Hamas mit 1400 Toten erwähnt sie nicht. Für die Schülerin ist das, was gerade geschieht, eine logische Folge. Den Einmarsch israelischer Truppen in Gaza habe sie erwartet, sagt Sari, „diese Angriffe haben gewissermaßen Tradition“, vor allem während des islamischen Fastenmonats Ramadan seien schon häufig palästinensische Moscheen gestürmt worden. Ihre Informationen beziehe sie von Medien, denen sie vertraue. Das Internet ist voll von Videos, von Reden, von Social-Media-Posts. 

    Saris Ausdauer ist beachtlich. Wenn die Schülerin morgens aufsteht, fällt ihr erster Blick auf ihr Handy, sie checkt Nachrichten, immer auf der Suche nach Neuigkeiten aus Gaza. Seit Jahren verfolge sie das Geschehen im Nahen Osten. Was gerade geschehe, sei nichts anderes als ein Massaker. Tatsächlich wird der internationale Druck auf Israel von Tag zu Tag größer. Die USA, Frankreich, die Weltgesundheitsorganisation, die Vereinten Nationen, sie alle rufen Benjamin Netanjahu auf, zivile Opfer zu vermeiden. US-Außenminister Antony Blinken warnt, nach den Kampfhandlungen werde es „keinen Partner für den Frieden“ mehr geben, wenn die palästinensische Bevölkerung „von der humanitären Katastrophe verzehrt“ und „entfremdet durch die wahrgenommene Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not“ sei. Doch am Recht auf Selbstverteidigung Israels gibt es zumindest in der westlichen Welt keinen Zweifel. 

    Auf den Pro-Palästina-Demos ist das anders. Babys zu töten sei keine Selbstverteidigung, steht auf einem der Plakate. Gemeint sind Babys im Gazastreifen – nicht die in Israel, die die Hamas am 7. Oktober ermordete. Auf einem anderen Plakat steht: „Sophie Scholl hätte heute nicht weggeschaut.“ Dass ausgerechnet die Kämpferin gegen den Nationalsozialismus als Kronzeugin gegen den jüdischen Staat, der sich selbst verteidigt, herangezogen wird – das ist eine gewagte Verdrehung, mindestens. Chuzpe würde man das im Hebräischen nennen. Gaza wird von einer islamistischen Terrororganisation regiert, die weder Menschenrechte noch freie Meinungsäußerungen für schützenswert hält. 

    Die entscheidende Frage muss also an dieser Stelle dann doch erlaubt sein: Was ist nun mit der Hamas, Frau Sari? Dazu wolle sie nichts sagen, erklärt die junge Frau. „Das wird eh nur falsch verstanden.“ Umso klarer formuliert sie die Forderungen der pro-palästinensischen Bewegung: "Wir wollen Palästina komplett zurückhaben", an einen Staat Israel oder dessen Existenzberechtigung glaube sie nicht und lehne deshalb auch eine Zwei-Staaten-Lösung ab. Es ist die Haltung, die von einem großen Teil der Menschen der muslimischen Länder vertreten wird. Die Parole „From the river to the sea“ („Vom Fluss bis zum Meer“), die auf vielen Demonstrationen in Deutschland zu hören war und inzwischen verboten ist, bedeutet nichts anderes als die Zerstörung des israelischen Staates. Sari schüttelt den Kopf. "Das hat ja nur mit Israel, nicht mit den Juden zu tun", sagt sie. „Juden sind und waren in Palästina immer willkommen, und ich finde es schlimm, wenn sie leiden.“

    Sie sind lang, die Schatten dieses Krieges. Wie lässt sich der tiefe Graben in Deutschland überwinden? Vielleicht gibt Deborah Lipstadt, die Historikerin, den besten Rat: Der Umgang mit Minderheiten sei ein Gradmesser – für alle. „Antisemitismus sollten auch Nichtjuden fürchten, denn er bedroht die Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft. Was mit den Juden beginnt, hört nie mit den Juden auf.“

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