Tränen fließen über ihre Wangen, der Schmerz und die Trauer haben tiefe Spuren in ihr Gesicht gezeichnet. Aviva Siegel ist eine Frau von 64 Jahren. Ihre grauen Locken springen wild in die Luft, das schwarze T-Shirt, das sie trägt, ist so etwas wie ihre Uniform geworden. Sie trägt es, wenn sie aus Protest vor dem Dienstsitz des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu campt. Sie trägt es, wenn sie mit Menschen über ihr Schicksal spricht. Auf die Brust hat die Israelin ein Foto ihres Mannes Keith drucken lassen. Seit mehr als 130 Tagen ist er eine der Geiseln der Terrororganisation Hamas. Und Aviva Siegel weiß genau, was das bedeutet. Sie gehörte selbst zu den Gekidnappten, kennt die Angst, die ständige Bedrohung. Fühlt jede Sekunde mit jenen, die noch in den Tunneln der Terroristen kauern. Die Gangster waren in ihr Haus in einem Kibbuz gekommen, um sie als Waffe, als Faustpfand gegen den Staat Israel zu nutzen. Nach mehr als 50 Tagen kam sie frei, die Regierung hatte einen Deal geschlossen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich meine Kinder noch einmal sehe, dass ich noch einmal eine warme Dusche nehmen kann“, sagt sie, ihre Stimme zittert.
In einem unterirdischen Raum wurde sie festgehalten, gemeinsam mit anderen Frauen und Mädchen. Das Essen war knapp, viele Tage musste sie hungern, es habe kaum Wasser gegeben, kaum Luft zum Atmen. Die Furcht, was passieren würde, war dafür allgegenwärtig. Eines Tages sei eines der Mädchen abgeholt worden von den Hamas-Kämpfern. „Als sie wiederkam, konnte ich es in ihrem Gesicht sehen, dass etwas passiert ist. Erst nach ein paar Stunden hatte sie die Kraft, uns zu sagen: Er hat mich angefasst. Es war ein sehr schwieriger Moment für uns", erinnert sich Siegel. Die Periode der jungen Frau blieb aus. War sie schwanger? War es eine Reaktion ihres Körpers auf den Stress? „Sie haben sie wie Puppen behandelt“, ärgert sich Aviva Siegel. „Ich kann das alles nicht vergessen. Wir müssen sie da rausholen“, appelliert sie an die Welt. Ihre größte Angst: Dass die Geiseln – 134 sind noch in der Hand der Hamas – in Vergessenheit geraten. Dass sie geopfert werden, zwischen die Fronten geraten – im wahrsten Sinne des Wortes.
Druck auf die Regierung von Benjamin Netanjahu wächst
Die ehemaligen Geiseln und ihre Angehörigen spielen eine wichtige Rolle in diesem Krieg. Sie sind es, die die Welt davon überzeugen sollen, dass Israel in diesem Krieg kein Täter ist, sondern ein Opfer, das sich selbst verteidigt. Sie sind es aber auch, die die eigene Regierung in die Pflicht nehmen, die eine Feuerpause verhindern will. Mit jedem Tag, den die Kämpfe andauern, wird der Druck auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu größer.
„Es ist wirklich ein großes Dilemma“, sagt Ron Prosor im Gespräch mit unserer Redaktion. Der 65-Jährige ist israelischer Botschafter in Deutschland. „Es geht um Menschenleben und die haben bei uns oberste Priorität.“ Was ihn besonders schmerzt: Viele der ehemaligen Geiseln und die Angehörigen fühlen sich vom Staat Israel ohnehin verlassen. Dessen wichtigstes Versprechen war stets, die eigene Bevölkerung zu schützen, ein Menschheitsverbrechen wie den Holocaust nicht mehr zuzulassen. Doch die israelischen Streitkräfte konnten am 7. Oktober 2023 nicht verhindern, dass die Hamas an einem einzigen Tag mehr als 1000 Menschenleben raubten. Es sei, so Prosor, deshalb auch richtig die Terrororganisation massiv zu bekämpfen. Zugleich aber müsse auch auf die Geiseln Rücksicht genommen werden. „Eigentlich kämpfen wir mit zwei Händen, die auf dem Rücken zusammengebunden sind“, sagt der Botschafter. „Wir sind bereit, einen hohen Preis zu zahlen, damit die Geiseln freikommen.“
Befreiung der Geiseln: Welchen Preis ist Israel bereit zu zahlen?
Doch wie hoch kann dieser Preis sein? General Gal Hirsch, der mit der Befreiung der Geiseln beauftragt ist, macht deutlich: „Wir sind bereit, einen Preis zu zahlen – aber wir zahlen nicht jeden Preis.“ Es gehe darum, den Terror zu besiegen und damit auch in Zukunft für Sicherheit zu sorgen. Die Unterhändler arbeiten nach Informationen der israelischen Zeitung Haaretz aktuell darauf hin, dass eine Feuerpause mit dem muslimischen Fastenmonat Ramadan zusammenfällt, der am 10. März beginnt. Er hoffe, dass es schnell einen Deal mit der Hamas zur Befreiung der Geiseln geben werde, sagte US-Präsident Joe Biden. Israels Präsident Izchak Herzog traf sich am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz heimlich mit Katars Ministerpräsidenten Mohammed bin Abdulrahman Al Thani. Das ungewöhnliche Treffen der beiden Politiker verdeutliche, wie dringlich die Lage ist.
Tatsächlich schwindet mit jedem Tag, der vergeht, die Hoffnung, dass alle Geiseln zurückkehren können zu ihren Familien. Zeit ist in Geiselverhandlungen eines der kritischsten Elemente. Viele der Gekidnappten sind alt oder auf Medikamente angewiesen. Einer von ihnen ist Alex Danzig, er ist 75 Jahre, seine Eltern überlebten den Holocaust, er selbst lehrte als Historiker über dieses Trauma der jüdischen Bevölkerung. Er sei herzkrank, brauche dringend Medizin, sagt sein Sohn Yuval. „Die Menschen in Gaza bekommen Medikamente, sie bekommen Nahrungsmittel, die Geiseln müssen hungern“, sagt er. „Die Welt muss handeln.“ Es sind Hilferufe von Verzweifelten. „Ich frage Sie als Mutter: Soll das Böse siegen?“, sagt Ayelet Levy-Shachar. Die Bilder ihrer 19-jährigen Tochter Naama Levy gingen am 7. Oktober 2023 in den sozialen Medien um die Welt. Die Hose im Schritt blutverschmiert, die Hände gefesselt, wurde sie von der Hamas auf der Ladefläche eines Pick-ups erst zur Schau gestellt, dann in den Gazastreifen verschleppt.
Krieg im Nahen Osten: Wie wird Israel in Rafah vorgehen?
Unterdessen werden die internationalen Mahnungen an die israelische Regierung eindringlicher. Israel bereitet derzeit im Kampf gegen die Hamas eine Militäroffensive auf die an Ägypten angrenzende Stadt Rafah vor. Dort befinden sich Hunderttausende Zivilisten, die auf engstem Raum Schutz suchen. Die USA – für Israel wichtigste Schutzmacht und Geldgeber – verlangen einen Plan, der sicherstellen soll, dass das Leben von Zivilisten verschont wird. Die Armee soll ausarbeiten, wie eine Evakuierung von Hunderttausenden Zivilisten vor sich gehen könnte. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mahnte zuletzt mehrfach, die Regeln der Humanität nicht außer Acht zu lassen.
Wie sehr Israel um die Unterstützung seiner Verbündeten ringt, zeigte auch der Besuch von Außenminister Israel Katz in München: Katz ist Sohn eines Holocaust-Überlebenden, setzte zum ersten Mal einen Fuß in das Land der Täter. Nie habe er sich überwinden können, die Orte des Grauens persönlich zu bereisen. „Es ist ein sehr bewegender Moment für mich“, sagte er. Aber er wolle Deutschland danken für die Hilfe. Und doch stellt er klar: An einer Fortsetzung des Kampfes im Gazastreifen führe für Israel kein Weg vorbei. „Das ist nicht nur unser Krieg, das ist ein Krieg der freien Welt gegen den islamistischen Terror“, sagt er. Das Ziel bleibe, die Hamas zu eliminieren. Nicht die israelischen Truppen, sondern die Hamas selbst sorge dafür, dass die Zahl der toten Zivilisten steige. Allein im Nasser-Krankenhaus in der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens hatten Soldaten nach Angaben des Militärs bislang 100 Verdächtige festgenommen, die am Massaker der Hamas beteiligt gewesen seien. Die Truppen hätten im Krankenhaus auch Waffen und im Bereich der Klinik Granaten der Hamas gefunden.