Als das Mullah-Regime in Teheran seine Raketen und Drohnen in Richtung Jerusalem abfeuerte, schien die Lunte für einen großen Krieg im Nahen Osten entzündet. Nur der vergleichsweise harmlose Verlauf des iranischen Angriffs verhinderte, dass die Spirale der Eskalation unmittelbar in Gang gesetzt wurde. Gleichwohl bleibt die Stimmung in den arabischen wie an den westlichen Regierungssitzen angespannt. Was geschieht in den kommenden Tagen und Wochen? Drei mögliche Szenarien.
1. Israel nimmt den symbolischen Sieg des Iran hin: Der Angriff des Iran wurde von großem Theaterdonner begleitet, doch die tatsächlichen Schäden sind überschaubar. Israel hat nach eigenen Angaben 99 Prozent der Objekte abgefangen, verletzt wurde eine einzige Person – ausgerechnet ein muslimisches Mädchen in der Negev-Wüste. Die internationalen Partner Israels versuchen daher, mit größtmöglichen diplomatischen Bemühungen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu davon zu überzeugen, dass ein Gegenschlag auf Teheran die schlechteste aller Optionen wäre. „Das Beste, was man im Fall Israels tun kann, ist anzuerkennen, dass dies für Iran ein Misserfolg war“, sagte der britische Außenminister David Cameron dem Sender Times Radio. Bundeskanzler Olaf Scholz gab den "Ratschlag, selbst zur Deeskalation beizutragen“.
Israel braucht Allianzen mit arabischen Partnern
Die USA stellen sich als Schutzmacht zwar öffentlich in unverbrüchlicher Treue an die Seite Israels, machen aber zugleich klar, dass sie einen direkten Schlag gegen den Iran nicht unterstützen würden. Hört Netanjahu auf Biden, könnte sich das zuletzt wegen der hohen Opferzahlen im Gazastreifen erkennbar belastete Verhältnis der beiden Politiker wieder etwas entspannen – für den israelischen Ministerpräsidenten wäre das zumindest ein politischer Erfolg. Bei der eigenen Bevölkerung ist er inzwischen höchst umstritten, nun hätte er die Möglichkeit, sich als der Mann zu präsentieren, dem die wichtigen internationalen Helfer vertrauen. Immerhin hat selbst das Königreich Jordanien Israel unterstützt, die Raketen und Drohnen unschädlich zu machen. Diese Allianz in den arabischen Raum hinein könnte Netanjahu stärken, indem er Besonnenheit zeigt. Hinzu kommt: Der Iran hat mit sich selbst genug zu kämpfen. Das Regime schafft es nicht, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen und sitzt weniger fest im Sattel, als es das nach außen hin vermitteln will. Der Haken: Besonnenheit ist im Nahen Osten nicht gerade die Kernkompetenz der politischen Führung.
2. Israel und der Iran traktieren sich mit Nadelstichen, die eine Schmerzgrenze nicht überschreiten: Beim Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 wurden nicht nur mehr als 1000 Menschen getötet, auch eine wichtige Säule des Staates Israel wurde gefährlich beschädigt: das Vertrauen, dass die Regierung dazu in der Lage ist, die eigene Bevölkerung zu schützen. Die Schwäche, die der Staat am 7. Oktober gezeigt hat, wird er im Umgang mit dem Iran nicht noch einmal zeigen wollen – der Rachegedanke und der Wunsch, Muskeln zu zeigen, dürfte eine nicht zu unterschätzende Motivation der Regierung Netanjahu sein. Und doch muss das nicht heißen, dass Israel zum direkten Schlag ausholt – und vor allem nicht, dass dies unmittelbar geschieht.
Möglich wäre, dass Israel – wie in der Vergangenheit auch schon – iranische Milizen in anderen Ländern attackiert, aber eben nicht auf iranischem Boden. Ein Experte im Magazin Foreign Policy hält israelische Angriffe auf iranische Repräsentanten und Infrastruktur in Syrien, dem Libanon, dem Irak oder dem Jemen für wahrscheinlich. Auch Cyberattacken wären ein Weg, Vergeltung am Iran zu üben. Teheran würde sich zwar wahrscheinlich durch Attacken rächen, die von der Hisbollah, den Huthi oder anderen Stellvertretern ausgeführt würden. Doch so zynisch es erscheinen mag: Es wäre ein Mittelweg. Denn eine direkte Konfrontation wäre damit immerhin verhindert, beide Seiten könnten offiziell ihr Gesicht wahren. Es gibt durchaus Anzeichen, dass sich Israel für diesen Weg entscheidet. „Wir werden auf den Iran reagieren, aber man muss es klug anstellen und nicht aus dem Bauch heraus“, sagte Netanjahu. „Sie müssen nervös sein, so wie sie uns nervös gemacht haben.“
3. Israel reagiert mit einem großen Gegenschlag auf den Iran: Es ist das Szenario, vor dem die halbe Welt zittert. Und ein Szenario, das vor allem die rechtsextremen Kräfte im Kabinett von Netanjahu vorantreiben. „Alle Augen im Nahen Osten und auf der ganzen Welt sind jetzt auf den Staat Israel gerichtet“, schrieb Finanzminister Bezalel Smotrich in martialischen Worten. „Wenn unsere Reaktion für mehrere Generationen im ganzen Nahen Osten nachhallt – dann werden wir siegen. Wenn wir uns aber – Gott bewahre – zurückhalten, dann bringen wir uns und unsere Kinder in eine unmittelbare existenzielle Gefahr.“ Smotrich und seine Mitstreiter setzen den Ministerpräsidenten regelmäßig unter Druck. Sie haben ein scharfes Schwert in der Hand: Lassen sie die Koalition platzen, ist Netanjahu sein Amt los und wird wohl auch nicht mehr wiedergewählt.
Die iranische Armee ist hoch gerüstet
Doch ein israelischer Gegenschlag im Iran selbst könnte wiederum eine neue, vermutlich deutlich härtere Reaktion Teherans auslösen. Ein Teufelskreis. Der Weg zu einem brandgefährlichen Krieg mit potenziell verheerenden Konsequenzen für die ganze Region und möglicherweise sogar darüber hinaus wäre dann nicht mehr weit. Ein besonderer Blick ruht dabei auf dem iranischen Atomprogramm. Stimmt es, was Offizielle in Teheran sagen, dann wäre der Iran innerhalb weniger Monate bereit, auch Atomwaffen herzustellen.
Doch selbst wenn es „nur“ zu einem konventionellen Krieg käme, wären die Folgen für die Bewohner der Region massiv. Der Iran hat eine der größten Armeen der Welt mit 610.000 aktiven Soldaten und etwa 350.000 Reservisten (inklusive Revolutionsgarden). Den Einsatz von Drohnen hat der Iran bereits in der Ukraine „geübt“. Die Hisbollah und die Huthi würden ihre Angriffe auf Israel ebenfalls verstärken. Und dass sich die USA dann wirklich aus dem Machtkampf der Erzfeinde heraushalten, ist eher unwahrscheinlich.