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Krieg im Nahen Osten: Im Nahen Osten sprechen wieder die Waffen

Krieg im Nahen Osten

Im Nahen Osten sprechen wieder die Waffen

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    Rauch steigt am Ende einer siebentägigen Waffenruhe über dem Gazastreifen auf. Israels Armee hat die Kämpfe gegen die islamistische Hamas wieder aufgenommen.
    Rauch steigt am Ende einer siebentägigen Waffenruhe über dem Gazastreifen auf. Israels Armee hat die Kämpfe gegen die islamistische Hamas wieder aufgenommen. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Das schrille Heulen der Sirenen im Süden Israels zerreißt die angespannte Ruhe am Freitagmorgen um kurz vor sechs Uhr. Das erste Mal nach einer Woche Stille warnen die Sirenen in Israel wieder vor Raketenbeschuss. Kurz darauf steigen israelische Kampfflugzeuge in den Himmel. Über dem Gazastreifen sind dunkle Rauchwolken zu sehen, die eine düstere Botschaft transportieren: Die Bemühungen um eine weitere Ausdehnung der Feuerpause zwischen Israel und der Hamas sind gescheitert, die Kämpfe gehen acht Wochen nach dem Angriff der Terroristen weiter.

    Israels Regierung sieht die Verantwortung klar bei der Hamas: Die Terroristen hätten entgegen der Abmachung keine Liste mit den Namen von weiteren freizulassenden Geiseln übermittelt und stattdessen Raketen abgefeuert. Zudem hatte die Anschlag am Donnerstag in Jerusalem Verantwortung übernommen. Ein Vertreter der Hamas wiederum warf Israel in einem Interview mit dem Fernsehsender Al-Jazeera vor, die ihr vorgelegte Liste von Geiseln nicht akzeptiert zu haben. 

    Wirklich überrascht sind Experten von der Entwicklung nicht. Schon die nun zu Ende gehenden Feuerpausen waren nur durch ein kompliziertes diplomatisches Ringen zwischen Israel, der Hamas und dem Emirat Katar zustande gekommen. Mehrfach schienen die Verabredungen kurzfristig zu scheitern. „Dass die Feuerpausen nicht in einer Waffenruhe enden, war zu erwarten“, sagt Stephan Stetter, Konfliktforscher und Nahost-Experte an der Universität der Bundeswehr in München. „Es war klar, dass diese Phase an ihr Ende kommt. Dieser Krieg wird noch eine ganze Zeit lang weitergehen.“ 

    137 Geiseln befinden sich noch im Gazastreifen

    Für die Angehörigen der Geiseln ist das Ende der Feuerpause eine mehr als niederschmetternde Nachricht. Israel vermutet, dass sich noch 15 Frauen und Kinder in der Gewalt palästinensischer Terroristen im Gazastreifen befinden. Insgesamt sollen sich noch rund 137 Geiseln im Gazastreifen aufhalten. Darunter sind auch noch mehrere Deutsche. Besonders bewegt die israelische Gesellschaft das Schicksal des zehn Monate alten Kfir Bibas und seines vierjährigen Bruders Ariel, die gemeinsam mit ihrer Mutter entführt wurden. Sie sind die einzigen Kinder unter den Geiseln, die nicht aus Gaza zurückgekehrt sind. Die Hamas behauptet, sie seien bei einem israelischen Luftschlag ums Leben gekommen; die israelische Armee (IDF) warnt, dabei könne es sich um psychologische Kriegsführung handeln, und hat eine Untersuchung angekündigt. 

    Yocheved Lifshitz , 85, ist eine von der Hamas freigelassene Geisel.
    Yocheved Lifshitz , 85, ist eine von der Hamas freigelassene Geisel. Foto: Ilia Yefimovich

    Nach Aussagen des Vermittlers Katars laufen die Verhandlungen trotz der erneuten Kämpfe weiter. Doch sie dürften noch schwieriger werden: Es ist zu erwarten, dass die Hamas im Austausch für die nun zum Großteil männlichen Geiseln – unter ihnen sind auch israelische Soldaten – deutlich höhere Forderungen stellen wird. „Da werden wir noch dramatische Situationen erleben“, prognostiziert Stephan Stetter. Für die nun freigelassenen 105 Geiseln entließ Israel 240 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen. Der Faktor 1:3 werde sich ganz sicher zuungunsten von Israel verschieben. 

    Kämpfe im Süden des Gazastreifens werden schwieriger

    Derweil dürfte für Israels Armee nun die schwierigste Phase des Krieges beginnen. Am Freitag zeichnete sich ab, dass die IDF ihre Offensive wohl bald in den Süden des Gazastreifens ausdehnen will: Die Armee hat die Anwohner in einigen südlichen Gebieten Gazas per Flugblatt zum Verlassen ihrer Häuser aufgefordert. So war die IDF auch zu Beginn des Krieges bereits im Norden Gazas vorgegangen, bevor sie dort mit Bodentruppen vorrückte. Die Flucht der Zivilisten erleichterte den Soldaten den Kampf gegen die Hamas, die viele ihrer militärischen Einrichtungen in dicht bebauten Gebieten angelegt hat. Nun aber werden die Ausweichmöglichkeiten für die Palästinenser kleiner. 

    „Der internationale Druck auf Israel wird größer werden“, sagt Stephan Stetter. „Im Süden des Gazastreifens muss die Armee anders vorgehen als im Norden.“ Der Einsatz müsse vorsichtiger sein und gezielter. Im Süden des Gazastreifens drängen sich die Menschen inzwischen besonders dicht, Zehntausende Binnenflüchtlinge halten sich hier auf. Und schon jetzt steht die von den Hamas-Behörden gemeldete Opferzahl bei fast 15.000. Zwar unterscheiden die Behörden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern. Über wie viele Kämpfer die Hamas verfügt, lässt sich ohnehin nur spekulieren und auch eine unabhängige Überprüfung der Opferzahlen ist derzeit nicht möglich. Experten halten sie jedoch für einen halbwegs verlässlichen Richtwert. Und es besteht kein Zweifel daran, dass eine Offensive im Süden die Zahlen weiter in die Höhe treiben wird. 

    US-Regierung mahnt Israel zu Rücksicht auf Zivilisten

    Die US-Regierung, Israels wichtigster Verbündeter und zugleich der Einzige, der das Kalkül der israelischen Regierung ernsthaft beeinflussen kann, hat bereits eine ungewohnt deutliche Warnung ausgesprochen. Die „massiven zivilen Opferzahlen sowie die Vertreibung in jenem Ausmaß, das wir im nördlichen Gazastreifen gesehen haben“, dürfe sich nicht wiederholen, sagte US-Außenminister Antony Blinken nach einem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Donnerstag. Und doch hat Israel durchaus politischen Rückhalt für sein Vorgehen. „Selbst arabische Staaten haben bisher ihre diplomatischen Beziehungen nicht abgebrochen“, sagt Stetter. 

    Der Hamas dürfte vor allem das ein Dorn im Auge sein. Sie hatte auf eine Ausweitung des Krieges gehofft. Ihr einziger vorweisbarer Erfolg bleibt der Geiseldeal. „Dadurch kann sich die Hamas als der Akteur verkaufen, der etwas erreicht für die palästinensische Bevölkerung“, sagt Stetter. „Dass sie es war, die die palästinensische Bevölkerung in eine ganz fürchterliche Lage gebracht hat, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt. Ich hoffe, dass das in Palästina nach dem Krieg aufgearbeitet wird.“ 

    Palästinenser begutachten die Schäden nach einem israelischen Luftangriff im südlichen Gazastreifen nach dem Ende der siebentägigen Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas.
    Palästinenser begutachten die Schäden nach einem israelischen Luftangriff im südlichen Gazastreifen nach dem Ende der siebentägigen Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. Foto: Mohammed Talatene,dpa

    Israel ist mit der Unterbrechung der Kämpfe durchaus ein Risiko eingegangen. „Die Feuerpause war aus Sicht der Hamas vor allem eine militärische Verschnaufpause“, sagt Peter Neumann, Extremismusexperte am King's College in London. Die Pause habe es ihr ermöglicht, neue Raketen zu bauen und in Position zu bringen, Befehlsketten instand zu setzen, Kämpfer an andere Orte zu bringen und die verbleibenden Geiseln so zu verstecken, dass sie von Israel noch schwerer zu finden seien. „Deswegen sage ich seit geraumer Zeit, dass die Geiseldeals, so erfreulich sie auch für die Betroffenen sein mögen, letztlich das Erreichen des Kriegsziels, nämlich die Zerstörung der Hamas, schwerer machen und dass die zwei von Netanyahu deklarierten Kriegsziele, Befreiung aller Geiseln und Zerstörung der Hamas, miteinander in einem Spannungsverhältnis stehen“, so Neumann. 

    Was geschieht nach dem Krieg mit dem Gazastreifen?

    Unsicher bleibt der langfristige Plan Israels für den Gazastreifen. „Das Ziel Israels ist weiterhin, dass die Hamas nach dem Krieg keine Rolle mehr spielt und auch keine Bedrohung mehr darstellt“, sagt Stetter. „Das will nicht nur die israelische Regierung, sondern auch die israelische Gesellschaft.“ Doch wie der politische Weg nach den Kämpfen für eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts aussehen kann, darüber fehlt ein Konsens. Womöglich, so vermutet der Experte, werde erst eine neue Regierung diesen Schritt schaffen. 

    Die alte Regierung gerät unterdessen immer stärker unter Druck. Wie die New York Times jetzt berichtet, lagen Israel Hinweise auf einen geplanten Großangriff der Hamas mehr als ein Jahr vor dem 7. Oktober vor. Demnach gab es einen umfassenden Austausch israelischer Behörden zu einem 40 Seiten langen Dokument mit dem Codenamen „Jericho-Mauer“, das einen Gefechtsplan der Hamas skizzierte. Dieser soll bis ins Detail dem Angriff geähnelt haben, den Hamas-Terroristen dann Anfang Oktober aus dem Gazastreifen heraus ausführten. Er sei letztlich aber von den israelischen Experten in Militär- und Geheimdienstkreisen als zu anspruchsvoll und schwierig für die Hamas in der Ausführung abgetan worden. 

    Die Folgen lasten tonnenschwer auf der israelischen Gesellschaft. Immer neue grausame Details berichten inzwischen Angehörige der von der Hamas freigelassenen Geiseln aus der Zeit der Gefangenschaft. Zwei 12 und 16 Jahre alte Jungen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, sollen von Terroristen unter Drogen gesetzt worden sein, meldete die israelische Zeitung Haaretz unter Berufung auf ihren Onkel am Freitag. Die Entführer hätten auch jeweils ein Bein der Jungen in ein Auspuffrohr eines Motorrads gesteckt, um so eine Markierung zu hinterlassen, damit sie im Fall einer Flucht identifiziert werden können.

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