Der 19-jährige Israeli Noam Cohen dachte, er sei nach einem Massaker der islamistischen Hamas in Sicherheit. Doch der enge Schutzbunker, in dem er sich mit rund zwei Dutzend Festivalbesuchern versteckte, wird zur Todesfalle. "Uns wurde klar, hier wollten die Terroristen uns haben, völlig ausgeliefert", sagt Cohen. Mehrere Granaten seien in den randvollen Bunker geworfen worden. Er erinnere sich an Schüsse, Blut und Leichenteile. "Ich sah, wie Menschen neben mir explodierten, immer und immer wieder, Leichenteile überall." Dabei zeigt er kurze Videos, die den Schrecken dokumentieren.
Hunderte Angreifer der islamistischen Hamas hatten am Samstag das Feuer auf einer Rave-Party im Grenzgebiet zum Gazastreifen eröffnet und die jungen Feiernden in den Schutzraum nahe einer Bushaltestelle getrieben. Er sei ganz hinten gestanden, das habe ihn gerettet. "Unter Leichen habe ich mich verstecken können, sie wurden zu einem menschlichen Schutzschild", sagt er. Nach rund zehn Stunden sei er gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden. Von den mehr als 20 Festivalbesuchern im Bunker seien höchstens drei oder vier lebend rausgekommen. "Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe."
Zahl der Toten in Israel steigt auf 1300
Es sind Geschichten wie die von Noam, die ein ganzes Land in einen Schockzustand versetzen. An jedem Tag seit dem verheerenden Terrorangriff kommen weitere Details zu den Gräueltaten ans Licht, tauchen neue Fotos und Videos auf, die die Folgen unbeschreiblicher Grausamkeiten zeigen. Auch die offizielle Zahl der Toten steigt noch immer. Bei 1300 stand sie zuletzt. Und die Spuren der Verwüstung, die Beweise der Bestialität, mit der die Terroristen im Süden Israels vorgingen, brechen selbst Menschen, die dachten, schon alles gesehen zu haben.
Um die Leichen aus den Dörfern und Kibbutzim abzutransportieren, seien mehrere Lastwagen im Einsatz, sagte Moti Bokchin, der Sprecher für den freiwilligen Rettungsdienst ZAKA, am Mittwoch in einem Interview mit dem israelischen Fernsehsender 13. „Die Zahlen hier sind etwas, das das menschliche Gehirn einfach nicht fassen kann. Die Seele kann das nicht verarbeiten.“ Mit gebrochener Stimme beschreibt er entsetzlich zugerichtete Leichen von Männern, Frauen, Kindern, Babys. „Das war ein Mord von einer Brutalität, die wir immer in den Geschichten vom Holocaust gehört haben.“
Angehörige bangen um die Geiseln des Hamas-Terrors
Israel ist ein kleines Land mit großen Familien und Freundeskreisen; man kennt sich aus der Armee, aus der Uni, aus dem Kibbutz. Fast jeder kennt betroffene Familien. Die Katastrophe trifft die israelische Gesellschaft ins Herz.
Zu all jenen, die um Tote trauern, kommen jene, die um das Schicksal der Geiseln bangen. Mindestens Hundert sollen es sein, darunter viele Frauen, Kinder und sogar Babys. „Wir beschäftigen uns mit nichts anderem“, sagt Yarden Grienfeld mit müder Stimme am Telefon. Ihre Schwägerin, die 34-jährige Doron Katz Asher, befindet sich mit ihren beiden Töchtern, drei und fünf Jahre alt, ihrer Mutter und deren Lebensgefährten in den Händen der Hamas. Katz Ashers Ehemann Yoni hatte Doron und ihre Töchter auf einem Video erkannt, auf der Ladefläche eines Kleintransporters, umringt von Hamas-Männern. Seitdem hat die Familie von den Entführten kein Lebenszeichen erhalten. Seitdem versuchen er, Yarden und andere Angehörige auf jedem erdenklichen Weg, an Informationen zu kommen. „Wir versuchen alles“, sagt Yarden Grienfeld, „für uns gibt es kein anderes Thema.“
Die Krankenkassen haben Hotlines für psychologische Betreuung eingerichtet, dazu geben viele Therapeuten derzeit auf eigene Initiative kostenlose Workshops zu Traumabewältigung und Resilienz. Doch es wird Jahre dauern, das Trauma aufzuarbeiten. Und manche Wunden werden für immer bleiben.
In den sozialen Medien werden die Horror-Videos verbreitet
Zu all den Menschen, die Angehörige verloren haben, kommen die vielen Tausenden, die den Angriff überlebt haben und nun von Erinnerungen geplagt werden. Zu ihnen gehört Noam Ivri Adanani, 37, der 2009 aus Florida nach Israel eingewandert war und seit zwei Jahren in der Stadt Sderot lebt, wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. In der Stadt hatte es in diesen Jahren etliche Male Raketenalarm gegeben. Doch nichts hätte ihn vorbereiten können auf das, was er am Samstag erlebte. Nach dem ersten Raketenalarm am frühen Morgen sahen er und seine Frau in den sozialen Medien ein Video von Hamas-Männern in einem Pick-up-Truck. „Ich habe den zentralen Platz hier in Sderot erkannt“, sagt er. „Es war klar: Das passiert hier und jetzt.“ Über Stunden harrten sie in Todesangst aus, bis Sicherheitskräfte die Kontrolle über die Stadt wiederherstellten. Inzwischen haben er, seine Frau und weitere Angehörige die Stadt verlassen, bleiben für einige Tage in einem Hotel nahe dem Toten Meer, ein Angebot des Wohlfahrtsministeriums, um den Schock zu verarbeiten.
Als Reaktion auf den Terror reagierte Israel mit Luftangriffen in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Rund 300.000 Reservisten des 10-Millionen-Einwohner-Lands wurden mobilisiert. Eine Bodenoffensive im Gazastreifen, die auch für das israelische Militär große Verluste bringen könnte, steht möglicherweise kurz bevor. "Mein Mann arbeitet gerade beim Militär 24/7", sagt Michal H.
Mit Freiwilligen versuche sie, die Soldaten, so gut es ginge, aus der Ferne zu unterstützen. In der Schule gebe es etwa eine Sammelaktion für Soldaten. "Jeder versucht, seinen Teil beizutragen, jeder versucht, zu helfen", sagt Michal. Sie könne sich nicht ausmalen, was die Menschen im Grenzgebiet durchstehen müssen. "Mütter vergewaltigt, Kinder ermordet, es sind furchtbare Kriegsverbrechen passiert." Ihre drei Kinder versuche sie, vor dem Horror zu schützen. Soziale Netzwerke seien aktuell nicht erlaubt. Zu groß sei die Angst, dass die Hamas weitere verstörende Videos des Grauens und der Geiseln veröffentlichen könnte. (mit dpa)