Es sind die wohl schwersten Tage seines Lebens, die Sergej Orlow gerade erlebt. Es ist noch nicht lange her, da hoffte der Vize-Bürgermeister der ukrainischen Hafenstadt Mariupol auf den Aufschwung der örtlichen Wirtschaft, auf eine Gesellschaft, die positiv in die Zukunft blickt. Nun steht er vor den Trümmern dessen, was einmal seine Heimat war. Mehr als 200.000 Menschen sind aus der Stadt geflohen, sie steht unter ständigem Beschuss und Bombardement durch die russische Armee. „Ich weiß nicht, wie ich die Zerstörungen in unserer Stadt beschreiben soll. Die Stadt existiert eigentlich nicht mehr. Die Bilder von Grosny und von Aleppo – so sieht Mariupol im Augenblick aus“, sagt Orlow, als er ins ARD-Mittagsmagazin zugeschaltet wird. Die ukrainische Armee sei „sehr tapfer“, aber gegen die massiven Luftangriffe der russischen Armee hätten die Soldaten keine Waffen, um das Leben der Zivilisten zu schützen.
Die Hafenstadt Mariupol ist für die Russen von besonderer Bedeutung – sie sichert ihnen einen Zugang zum Meer und damit zu einem wichtigen Handelsweg. Um die Kapitulation zu erzwingen, lässt der russische Präsident Wladimir Putin die Stadt massiv bombardieren, Infrastruktur und Logistik werden gezielt zerstört, die Versuche, Zivilisten über „humanitäre Korridore“ zu retten, geraten immer wieder ins Stocken. Zum Freitag hätten die Separatisten-Truppen den Ring um Mariupol noch enger gezogen, sagte ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. Als „apokalyptisch“ beschreiben Beobachter die Situation.
Die russischen Truppen kommen nur langsam voran
Doch während der Krieg in der Ukraine in die dritte Woche geht, sind die Geländegewinne für Putin keineswegs so eindeutig wie es im Süden des Landes der Fall ist. „Ein Gesamtbild zu gewinnen, ist derzeit sehr schwierig“, analysiert Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. „Sicher ist, dass Russland langsam vorrückt, gleichzeitig aber erhebliche Verluste einstecken muss.“ Russische Vormärsche würden vor allem über die Straße erfolgen, damit setze sich die Armee aber der Gefahr von ukrainischen Angriffen aus. Vor allem rund um die Hauptstadt Kiew tun sich Putins Truppen schwer. Derzeit würden sich seine Soldaten auf weitere Angriffe vorbereiten – unterstützt werden sie dabei, so die Analyse von Krause, offenbar von Einheiten des tschetschenischen Führers Ramsan Kadyrow, der russischen Nationalgarde Rosgwardia, der Polizeispezialeinheit OMON sowie der berüchtigten Wagner Gruppe. Dies könnte ein Hinweis sein, dass das Militär die Lage nicht alleine beherrschen kann – oder dass die Brigaden bereits eroberte Städte unterdrücken sollen. „Ziel Russlands ist es offenbar, die Hauptstadt einzunehmen“, so Sicherheitsexperte Joachim Krause. „Dafür sind theoretisch zwei Wege denkbar: entweder eine Belagerung, bei der alle Zugänge nach außen abgeschnitten werden, oder die Einnahme der Stadt durch direkten Angriff, am besten von zwei Seiten zugleich.“
Der Militärexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München glaubt, dass Putin eher auf die Belagerung setzen wird. Ein Sturm auf die Stadt und ein Häuserkampf würde die russische Armee so viele Kräfte kosten, Soldaten müssten aus anderen Landesteilen abgezogen werden, dass dies kaum realistisch sei. „Ich halte eine Belagerung und ein ,Aushungern’ von Kiew für wahrscheinlicher“, sagt Masala in seinem Podcast mit dem Stern („Ukraine - die Lage“). „Das würde irrsinnige Bilder produzieren, die den Druck auf die Ukraine, sich jetzt endlich in zentralen Positionen zu bewegen, damit das menschliche Leiden aufhört, erhöhen.“ Er glaubt, dass die kommenden Tage eine neue Brutalität hervorbringen werden, dass die Terrorisierung der Zivilbevölkerung noch größere Ausmaße annimmt. Das, was Mariupol durchlebt, könnte also auch auf Kiew zukommen. Der Westen könne, so Masala, wenig dagegen tun. Um den Russen schwere Verluste zuzufügen, seien allenfalls weitere Waffenlieferungen eine Möglichkeit.
Die EU will weitere Waffen an die Ukraine liefern
Genau das will die EU nun tun. Weitere 500 Millionen Euro werden für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte zur Verfügung gestellt. Ein erstes Paket über ebenfalls 500 Millionen Euro war bereits Ende Februar bewilligt worden. Eine andere Frage sei, so Krause, warum Russland die Konvois mit westlichen Waffenlieferungen nicht angreife. „Vermutlich ist die Furcht auf russischer Seite sehr groß, dass derartige Angriffe die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens der Nato aufseiten der Ukraine erhöhen werden. Und das wäre der Albtraum für die russischen Militärplaner.“
Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.