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Krieg gegen die Ukraine: Kiews Offensive kommt nicht voran

Krieg gegen die Ukraine

Kiews Offensive kommt nicht voran

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    Die Ukraine wehrt seit mehr als 20 Monaten eine groß angelegte russische Invasion ab. Auch am Donnerstag verzeichnete der ukrainische Generalstab zahlreiche Bodengefechte entlang der fast 1000 Kilometer langen Front im Osten und Süden des Landes.
    Die Ukraine wehrt seit mehr als 20 Monaten eine groß angelegte russische Invasion ab. Auch am Donnerstag verzeichnete der ukrainische Generalstab zahlreiche Bodengefechte entlang der fast 1000 Kilometer langen Front im Osten und Süden des Landes. Foto: Alex Babenko, dpa

    Viel ist nicht übrig geblieben von der einst 32.000 Einwohner zählenden Stadt hier im Osten des geschundenen Landes. Kaum mehr 1000 Männer und Frauen harren noch aus in den Ruinen. Awdijiwka liegt auf einer kleinen Anhöhe. Der Ort ist zum Symbol dessen geworden, was den Krieg in der Ukraine inzwischen ausmacht: ein blutiges Patt. Seit fast vier Wochen versucht die russische Armee, die Stadt einzukesseln. Bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Trotzdem kommt sie den ukrainischen Nachschublinien immer näher. Die Truppen von Wladimir Putin und die der Ukraine liefern sich ausdauernde Gefechte, die Verluste bei Mensch und Material sind hoch. Der Krieg ist zu einem Stellungskrieg geworden, zu einem Fleischwolf. Beide Seiten versuchen, noch vor Einbruch des Winters größere militärische Erfolge zu vermelden. Doch die Kämpfe scheinen wie festgefahren.

    Schlechte Nachrichten sind das vor allem für Kiew. Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger wird es für Präsident Wolodymyr Selenskyj, genügend Soldaten an die Front zu schicken – und diese mit ausreichend Waffen zu versorgen. Die Zeit der langen Schlangen vor den ukrainischen Rekrutierungsbüros ist vorbei. Die Mobilisierung neuer Soldaten erfolgt nun oft per Dienstbefehl. Der Gigant Russland kann Verluste seiner Armee deutlich leichter ausgleichen, bekam zuletzt Munition aus Nordkorea, um die eigenen Lager aufzufüllen. „Anders als die Ukrainer, die flexibel auf derartige Erfahrungen reagieren und Verluste vermeiden, versuchen die Russen mit immer wieder denselben Methoden, Durchbrüche zu erreichen – nach dem Motto, dass Masse irgendwann Qualität aussticht“, sagt Joachim Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Der Preis: mehrere Tausend Tote und Verletzte auf russischer Seite. Man schätze, so der Experte, dass Russland seit Ausbruch des Krieges etwa eine Viertelmillion Tote und Verwundete zu beklagen habe. „Die Ukrainer gehen von weitaus höheren Verlusten auf russischer Seite aus“, sagt Krause. „Ihren Berechnungen zufolge sind schon 250.000 Russen gefallen, die Zahl der Verwundeten dürfte dann etwa zwei bis drei Mal so hoch sein.“ 

    Russland hat breite Minengürtel angelegt

    Und doch lautet die Analyse an diesem 618. Tag dieses Krieges: Anders als bei der Rückeroberung großer Gebiete im vergangenen Jahr haben sich in diesem Sommer ukrainische Hoffnungen auf Geländegewinne kaum erfüllt. „Die ukrainische Gegenoffensive hat nicht zu dem erhofften Durchbruch an der Front im Süden der Ukraine geführt“, sagt Krause. „Die Kampfhandlungen haben gezeigt, dass die Vorstellung naiv ist, wonach man mit gepanzerten und mechanisierten Kräften einfach einen Durchbruch erzielen kann. Dies ist kaum möglich, wenn die Gegenseite darauf vorbereitet ist, die Luftüberlegenheit hat und vor allem mit Minen, Panzerabwehrwaffen, Drohnen und Panzerfallen das Gelände so vorbereitet hat, dass kaum ein Durchkommen ist.“ Russland legt bis zu 20 Kilometer breite Minengürtel an, die kaum zu überwinden sind, hinzu kommt der massive Beschuss durch die russische Armee. Kiew musste in der Folge seine Strategie anpassen, hat sich inzwischen auf ein deutlich langsameres Tempo eingestellt. 

    Ganz ohne Fortschritte blieb das nicht. Immer wieder ist es den Soldaten gelungen, der russischen Armee empfindliche Treffer zuzufügen. Wladimir Putins Stellungen auf der Krim konnten geschwächt und die russische Marine aus dem westlichen Schwarzen Meer vertrieben werden. Das Hauptquartier der russischen Marine in Sewastopol wurde zerstört. Aufgeben kommt für Selenskyj und seine Führung nicht infrage, sie halten an der Befreiung aller besetzten Gebiete als Kriegsziel fest. Wie das geschehen soll, bleibt offen. Der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj schrieb in einem Beitrag für die britische Zeitschrift The Economist, nur ein Technologiesprung könne einen Ausweg aus diesem Stellungskrieg öffnen. Doch der ist aktuell kaum wahrscheinlich. Zusagen für modernes Gerät aus dem Westen tröpfeln in Kiew nur sehr langsam ein. Mit den versprochenen Kampfjets vom Typ F-16 aus verschiedenen Ländern kann Kiew erst im kommenden Jahr rechnen. 

    Was geschieht mit der westlichen Hilfe für die Ukraine?

    „Westliche Demokratien zeigen sich bislang eher als schwach und überfordert mit einem zusätzlichen Krieg im Nahen Osten und einem Flächenbrand auf unseren Straßen“, sagt Roderich Kiesewetter. Der Verteidigungsexperte der Union mahnt seit Monaten mehr Entschlossenheit an. „Insgesamt muss ich sagen, dass der bisherige Erfolg der Befreiungsoffensive vor allem auf Mut, Tapferkeit und Entschlossenheit der Ukraine beruht. Die westlichen Unterstützer haben hingegen viel zu wenig geliefert, um die Offensive wirksam zu unterstützen, sehr bitter.“ Schon „die Verzögerungstaktik von USA und Deutschland und die Weigerung Europas, die Rüstungsproduktion anzukurbeln“, so der Oberst a. D., hätten zu höheren Verlusten der Ukraine geführt und zu einem künftigen Nachteil bei den Ressourcen für Folgeoffensiven. „Viele Leben hätten gerettet werden können, wenn ATACMS-Raketen früher und Taurus-Marschflugkörper geliefert worden wären“, sagt er. „Die Dutzenden Kampfhubschrauber, die bei einem der ersten ATACMS-Einsätze zerstört worden sind, haben davor etliche ukrainische Soldaten getötet.“ Eine Kritik, die Krause teilt und auch Deutschland Fehler vorwirft: „Die Panzer kamen viel zu spät, vor einem Jahr hätten sie im Süden der Ukraine noch einen bedeutenden Unterschied gemacht.“ 

    Und politisch könnte es sogar noch schwieriger werden. Die Ukraine finanziert bisher etwa die Hälfte ihres Staatshaushalts durch internationale Hilfen. Ukrainische Medien beziffern die bisher geleistete Unterstützung des Westens auf mehr als 170 Milliarden US-Dollar. Mittelfristig und abhängig vom Ausgang der US-Wahl im kommenden Jahr könnte die Militärhilfe allerdings auf den Prüfstand kommen. In der republikanischen Partei gibt es massiven Widerstand gegen die kostenintensive Unterstützung für die Ukraine. Doch vieles bleibt im Ungefähren. „Die Hoffnung Putins, wonach Donald Trump in einem Jahr erneut zum Präsidenten der USA gewählt werden wird, halte ich für ziemlich aussichtslos“, ist Militärexperte Krause überzeugt. „Trump hat gute Chancen, von den Republikanern aufgestellt zu werden, aber ich gehe davon aus, dass Trump bei der Präsidentenwahl nicht genügend Stimmen bekommt.“ Die große Unsicherheit liege in Europa. „Viel mehr macht mir Sorgen, dass die Europäer immer noch nicht in der Lage sind, die zugesagte Menge an Artilleriegeschossen zu liefern. Und mir macht die Zögerlichkeit unseres Bundeskanzlers Sorge“, sagt er. 

    Eine Sorge, die man in der Ukraine teilt. Immer wieder appelliert Selenskyj an seine Partner, in ihrer Entschlossenheit nicht nachzulassen. Denn die Aussichten vor allem für die Zivilbevölkerung sind für die kommenden Monate alles andere als gut. „Über den Winter ist wieder mit vermehrten Angriffen auf die Energieinfrastruktur zu rechnen und mit der russischen Absicht, hunderttausende Ukrainer in Richtung Westen zu vertreiben“, vermutet Kiesewetter. Ein wichtiges Kalkül des Kreml dürfte sein: Je mehr ukrainische Flüchtlinge in anderen Ländern um Aufnahme suchen, umso höher wird der Druck auf Selenskyj, den Krieg zu beenden und Zugeständnisse zu machen.

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