Wie fühlt es sich an zwischen Hammer und Amboss? So könnte man zu Beginn des Jahres 2022 die Menschen in der Ukraine fragen und vor allem ihren Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Denn an den Grenzen des Landes sind rund 100.000 russische Soldaten aufmarschiert. Fachleute gehen davon aus, dass eine Verdoppelung innerhalb kurzer Zeit möglich ist. Dann wäre die Armee invasionsfähig. Und dass der russische Präsident Wladimir Putin nach der Krim-Annexion 2014 weitere „Expansionsgelüste“ hegt, davon sind viele westliche Politiker überzeugt. „Wir glauben, dass sie mehr Truppen nach vorn verlegen wollen“, sagt Julianne Smith, die US-Botschafterin bei der Nato. Im transatlantischen Bündnis will man deshalb Härte zeigen. Eben wie ein Amboss, unbeeindruckt von allen Hammerschlägen.
In Kiew gibt man sich unbeeindruckt von den Bedrohungen
Unbeeindruckt sind sie aber vor allem in Kiew. Während der Westen auf allen Ebenen mit dem Kreml verhandelt, erklärt Selenskyj: „Sie versuchen uns einzuschüchtern, aber keine Armee macht uns Angst.“ Man kann das natürlich als Pfeifen im Walde deuten. Als Mutmacher für die Bürgerinnen und Bürger – und nicht zuletzt für die eigenen Soldaten. Die Ukraine habe „eine großartige Armee“, sagt der Präsident und zählt auf: „Unsere Streitkräfte verfügen heute über das größte Budget in der Geschichte. Wir bauen zum ersten Mal Militärflugzeuge. Wir erweitern die Flotte gemeinsam mit Großbritannien. Bei Drohnen hilft die Türkei, und Raketen bauen wir selbst.“ Alles gut und schön, erwidern Fachleute. Aber im Konfliktfall wäre die russische Armee klar überlegen. Zumal die Nato erklärt hat, nicht militärisch einzugreifen.
Die Ukrainer starten trotzdem erstaunlich furchtlos ins neue Jahr. Gefragt nach ihrer Gefühlslage, kommen den meisten Menschen im Land vor allem Liebe und Freude in den Sinn. Auf einer Skala von 0 bis 5 erreichen die positiven Emotionen Werte von 2,9 bis 3,6. Die Angst dagegen liegt laut der Kiewer „Rating Group“ mit 2,2 am unteren Ende der Liste. Das stärkste negative Gefühl ist mit 2,7 die Wut. Sie richtet sich auf die Eliten in Politik und Wirtschaft. Zu groß ist noch immer der Einfluss der Oligarchen, zu verbreitet sind Bestechung und Selbstbereicherung. Entsprechend bewerten die Bürger die Korruption als das mit Abstand wichtigste Problem – und nicht den andauernden Krieg in der Donbass-Region oder die russischen Invasionsdrohungen.
Selenskyi hat den Kampf gegen Korruption zum Programm erhoben
Selenskyj weiß das. Und er ist besonders in der Pflicht. Denn der ehemalige Schauspieler zog vor drei Jahren mit einer Anti-Korruptionskampagne ins Präsidentenamt ein. Der Name seiner Partei ist Programm: Die „Diener des Volkes“ wollen in der Ukraine die etablierten, wie zementiert wirkenden Machtstrukturen aufbrechen. In kaum einer anderen Ex-Sowjetrepublik tobten nach dem Zerfall der Sowjetunion derart blutige Verteilungskämpfe. Am Ende hielten milliardenschwere Oligarchen wie der „Stahlbaron“ Rinat Achmetow, der Medienmogul Ihor Kolomojskyj oder der berüchtigte „Gasdealer“ Dmytro Firtasch das Geld und die Macht in Händen. Sie zogen auch in der Politik die Fäden. Ganze Parteien waren einzelnen Oligarchen zuzuordnen. Oder sie eroberten gleich selbst die höchsten Staatsämter.
Der Donezker „Pate“ Wiktor Janukowitsch und „Pralinenkönig“ Petro Poroschenko, der die Süßwarenindustrie der Ukraine aufkaufte, regierten als Präsidenten. „Gasprinzessin“ Julia Timoschenko brachte es immerhin zur Premierministerin. Und mit Ausnahme von Janukowitsch, der während der Maidan-Revolution 2014 nach Russland floh, sind die Oligarchen in der Ukraine allesamt noch aktiv. Sie sitzen weiter an den Schalthebeln der Medien, haben in Industrie, Banken, Landwirtschaft und selbst in Sport und Kultur das Sagen. Entsprechend groß ist die Aufgabe für den 43-jährigen Selenskyj. Und doch führt der Präsident den Kampf mit viel Mut zur Konfrontation.
Das zeigt sich vor allem im Ringen mit seinem politischen „Ziehvater“ Kolomojskyj. Der Oligarch aus Dnipropetrowsk unterstützte Selenskyj im Wahlkampf über die populären Sender seines Medienimperiums. Nach Selenskyjs Sieg verlangte Kolomojskyj die Rückgabe seiner von Poroschenko verstaatlichten Bank PB. Doch der neue Präsident verweigerte den „Gehorsam“. Er erfüllte lieber die Auflagen des Internationalen Währungsfonds, um Milliardenkredite nicht zu gefährden. Mehr noch: Selenskyj scheute auch den Konflikt mit dem russlandtreuen Oligarchen Wiktor Medwedtschuk nicht. Die Behörden in Kiew verboten mehrere einflussreiche Fernsehsender des Putin-Vertrauten und stellten ihn vorübergehend unter Hausarrest.
Auch mit dem Amtsvorgänger Poroschenko legte sich Selenskyi an
Zuletzt suchte der Präsident sogar die Konfrontation mit seinem Amtsvorgänger Poroschenko. Der Vorwurf: Hochverrat. Ausgerechnet der ehemalige Staatschef, der 2014 mit einer „Anti-Terror-Operation“ den Krieg gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine begann, soll später in der Donbass-Region Geschäfte gemacht haben. Beteiligt gewesen seien auch Spitzenvertreter Moskaus. Mit seinem furchtlosen Vorgehen mache sich Selenskyj in Russland sicher keine Freunde, urteilen Beobachter in Kiew. Vielmehr sehe der Kreml den Kampf gegen die Oligarchen als Bedrohung. Denn je weniger korrupt die Ukraine wird, desto näher rückt eine Integration in die westliche Staatengemeinschaft. Genau dieses Szenario aber will Putin erklärtermaßen verhindern.