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Kommentar zu 75 Jahren Grundgesetz in Deutschland

Kommentar

75 Jahre Grundgesetz: Ein bisschen Stolz ist schon okay

Peter Müller
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    Das Grundgesetz wurde am 23. Mai vor 75 Jahren offiziell verkündet.
    Das Grundgesetz wurde am 23. Mai vor 75 Jahren offiziell verkündet. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Gleichzeitig schickt sich eine Partei an, stärkste Kraft bei Landtagswahlen zu werden, die den Geist ebendieses Grundgesetzes infrage stellt. Deutschland ehrt in diesen Tagen die Verfassungsväter und -mütter, Menschen, die von dem Wunsch beseelt waren, die schlimme Vergangenheit dürfe sich nicht wiederholen. Und ausgerechnet jetzt drohen die bösen Geister der Geschichte wieder hervorzukriechen.

    Das Grundgesetz hat Deutschland geprägt – im besten Sinne. Von der starken Stellung der Menschenrechte nach der Nazi-Barbarei („Ewigkeitsklausel“) über die Liberalisierung einer vermufften Gesellschaft, die auf einmal mehr Demokratie wagen wollte, bis hin zur Öffnung nach Europa und dem Auftrag, den Kampf gegen den Klimawandel nicht weiter in die Zukunft zu verschieben. Auch wenn man darüber streiten kann, ob es nach der Wiedervereinigung vielleicht besser gewesen wäre, eine neue, gemeinsame Verfassung zu schmieden – das Grundgesetz ist einer der wenigen Einträge in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, auf den die Deutschen ohne Wenn und Aber stolz sein können. Verfassungspatriotismus, dieses Wort haben der Staatsrechtler Dolf Sternberger und der Philosoph Jürgen Habermas geprägt. Es würde uns gut zu Gesicht stehen, heute mehr davon zu zeigen.

    Statt die Kunst des Kompromisses zu pflegen, werden politische Debatten rauer

    Denn um das Land selbst, das gleichzeitig mit seinem Grundgesetz Geburtstag feiert, steht es nicht zum Besten. Lob für die Verfassung, vielleicht sogar garniert mit ein bisschen Pathos? Nirgends zu sehen, von Feierlaune fehlt jede Spur. Stattdessen merken die Bürgerinnen und Bürger, dass das alte Aufstiegsversprechen, „unseren Kindern soll es einmal besser gehen“, nicht mehr ohne Weiteres gilt. Finanz- und Flüchtlingskrisen, Krieg in Europa und die Pandemie, all das hat Spuren hinterlassen. Auf den Straßen deutscher Großstädte wird wieder gegen Jüdinnen und Juden gehetzt, doch dieses Mal sind es nicht die Schergen der SA, sondern oftmals Migranten aus Nahost.

    Gleichzeitig mehren sich die Kräfte, die die Republik und ihre Verfassung ablehnen. Statt die Kunst des Kompromisses zu pflegen, werden politische Debatten rauer, Diskussionen verenden im Freund-Feind-Denken, Politiker, die Wahlplakate aufhängen, riskieren, verprügelt zu werden. Auch wenn Vergleiche zu Weimar heillos überzogen sind, lässt sich aus der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie durchaus für heute lernen. Denn

    Das Grundgesetz hat sich als stabiles Fundament für unser Land erwiesen

    Allein schon deshalb war es ein gutes Zeichen, dass zu Beginn des Jubiläumsjahres Hunderttausende gegen die kruden Remigrationsfantasien der AfD auf die Straße gegangen sind. Es ist ein Signal dafür, dass unsere Demokratie lebt, dafür, dass es den Menschen nicht egal ist, ob eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei als stärkste Kraft in deutsche Parlamente zurückkehrt.

    Historiker bezeichnen die Bundesrepublik heute als „geglückte Demokratie“. Wer hätte nach Kriegsende davon zu träumen gewagt? Das Grundgesetz, einst als Provisorium ersonnen, hat sich als stabiles Fundament für unser Land erwiesen. Dieses Fundament zu erhalten, es zu stärken und darauf weiterzubauen, das allerdings müssen die Bürgerinnen und Bürger, das müssen wir alle schon selbst.

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