Die Grünen und ihre Wahlkampfstrategen hatten 16 Jahre Zeit, sich auf eine Kanzlerkandidatur vorzubereiten. Sie haben auch 16 Jahre davon geträumt – und sie haben in dieser Zeit sehr gerne in die USA geschaut, um von dort Konzepte und Strategien zu übernehmen.
In diesen Tagen muss man konstatieren: Die Grünen haben diese lange Phase nicht genutzt, sie wirken höchst unvorbereitet – und wenn sie den US-Maßstab auf diesen Wahlkampf anwenden, muss ihnen Angst und bange werden.
Denn natürlich ist vieles albern, kleinlich, möglicherweise peinlich oder gar sexistisch, was Annalena Baerbock derzeit entgegenschlägt. Es ist auch durchaus denkbar, dass viele Deutsche doch noch ein Problem damit haben, sich eine selbstbewusste junge Frau – die weit selbstbewusster auftritt als die frühe Angela Merkel – im Kanzleramt vorzustellen. Doch das ändert nichts an der wichtigsten Eigenschaft dieser Charakter-Attacken, sie sind in höchstem Maße effektiv.
Was die Grünen aus vergangenen US-Wahlkämpfen lernen können
US-Wahlkämpfe lehren dies: Denken wir nur an Al Gore, erfahrener Senator und Vizepräsident, der 2000 gegen George W. Bush antrat, einen politisch leichtgewichtigen Erben. Gore hatte viele Stärken, aber auch eine Schwäche, er überhöhte die eigene Bedeutung gerne ein wenig. So hatte er sich wirklich früh um politische Förderung des Internets bemüht, aber in seiner Darstellung klang es, als habe er dieses erfunden. Die robusten Bush-Wahlkämpfer stürzten sich darauf, und schließlich galt der erfahrene Gore als Aufschneider, während sich der unerfahrene Bush als ehrliche Haut präsentierte – und die Wahl knapp gewann.
Das Kunststück gelang seinen Wahlkämpfern vier Jahre später erneut. Da trat der Kriegsheld John Kerry an gegen den KriegsdienstDrückeberger Bush. Doch dessen Leute zeichneten früh ein Bild von Kerry als „Wischi-Waschi-Kandidaten“, der sich nicht entscheiden könne. Bush gewann erneut, trotz seiner miesen Bilanz.
Die Grünen zerlegen sich selber - Laschet kann sich heraushalten
Die Strategen von Armin Laschet kennen diese Vergleiche natürlich. Sie können deswegen gerade ihr Glück gar nicht fassen. Laschet muss nicht einmal in die Charakterattacken einsteigen, er kann sich vornehm heraushalten. Die Grünen, vor allem Frau Baerbock, zerlegen sich selber. Mit jeder noch so kleinen „Enthüllung“ wird sich bei den Wählern ein Bild verfestigen – das einer Frau, die ihre Kompetenz gerne etwas strahlender darstellt. Das ist besonders gefährlich, weil es um die Nachfolge von Angela Merkel geht, der man vieles unterstellen kann, aber gewiss keinen Hang zur eigenen Überhöhung.
Eigentlich müssten die Grünen Baerbock auswechseln (oder sie selber abtreten). Allerdings wäre dies das Eingeständnis eines Versagens – und auch der mögliche Ersatz Robert Habeck bietet viele Angriffsflächen. Das ist das Kern-Problem der Partei.
Viele Inhalte sind diskussionswürdig - doch es dreht sich alles um den Charakter
Das ist aber nicht nur das Problem der Grünen. Diese hatten ja angekündigt, einen inhaltlichen Wahlkampf auf Augenhöhe mit der Union zu bieten, den die SPD nicht mehr leisten kann. Viele Fragen, gerade zum ökologischen Umbau unserer Gesellschaft, muss man auch kontrovers diskutieren. Das wird aber nicht passieren, wenn sich alles um den Charakter dreht – und Laschet an seiner Strategie festhält, im Schlafwagen ins Kanzleramt zu fahren. Seine Absicht scheint zu sein: Wählerinnen und Wähler, die sich über Impfungen freuen und den Sommer genießen, bloß nicht mit Inhalten zu behelligen oder gar zu verschrecken.
Was Corona zuletzt aber überdeckte: Genau diese Verweigerung der Debatte von Zukunftsthemen hat viele Menschen am Ende der Ära Merkel frustriert. Wollen wir einfach so weitermachen?