Waren Sie in diesem Jahr schon auf einem Festival? Einem Volksfest? Oder mehreren? Viele traditionelle Großveranstaltungen finden gerade zum ersten Mal nach der Corona-Zwangspause wieder statt, dazu kommen Ausnahme-Events wie die European Championships oder die Riesenkonzerte in München, zu denen die Massen strömen als hätte jemand irgendwo einen gigantischen Hahn aufgedreht. Es ist offensichtlich: Die Menschen genießen das Feiern in der Menge. Jetzt, da es sie wieder gibt, wird schmerzlich bewusst, wie das gefehlt hat: die Momente, wenn sich Zehntausende Körper im Takt bewegen, wenn ein ganzes Stadion – oder ein ganzes Bierzelt – voll Inbrunst schmettert, wenn die Empfindungen vieler zu einem großen gemeinsamen Gefühl verschmelzen.
Nach Volksfesten steigen die Infektionszahlen
Wo jetzt, nachdem die Covid-Sommerwelle gerade überstanden ist, derart ausgelassen gefeiert wird, sind die Mahner nicht weit. Das Oktoberfest berge die Gefahr, dass gefährliche Virusvarianten von anderen Kontinenten eingeschleppt würden, es sei ein potenzielles Superspreader-Event, das wir noch fürchterlich bereuen würden. Tatsächlich liefern die Infektionsdaten sehr klare Hinweise darauf, dass Volksfeste die Ansteckungszahlen steil ansteigen lassen. Das ließ sich zum Beispiel für die Frühjahrsdult in Landshut beobachten oder für die Bergkirchweih in Erlangen. Auch wenn der Immunschutz in der Bevölkerung dank Impfungen und vielen Infektionen inzwischen besser ist: Vernünftig wäre es, auf die warnenden Stimmen zu hören und sich von Großereignissen fernzuhalten.
Die Politik der Pandemie stand unter dem Primat der Ratio. Vernünftige Entscheidungen auf der Basis von Fakten, auf Grundlage von Zahlen und validen wissenschaftlichen Erkenntnissen, das war, was die Öffentlichkeit von den Politikern erwartete und was diese – so viel darf man ihnen ruhig zugestehen – zumindest meistens zu liefern versuchten. Dieser Maßstab der Vernunft wird seit zweieinhalb Jahren nicht nur an politische Entscheidungen angelegt, sondern auch an private. Jedes Verhalten, das nicht hundertprozentig vernünftig motiviert ist (anfangs: Freunde Treffen, Fitnessstudiobesuche, heute: Großkonzerte, Fernreisen) wird oft gleich als das glatte Gegenteil bewertet: als unvernünftig, rücksichtslos, egoistisch.
Krieg, Corona, Klimakatastrophe – Belastungen für den emotionalen Haushalt
Aber der Mensch, dieses im besten Fall vernunftbegabte Wesen, ist eben weit mehr als das. Die Pandemie hat auch gezeigt, wie anstrengend es ist, sich andauernd und konsequent im Sinne der Vernunft einzuschränken, zurückzunehmen. Mit dem Ukraine-Krieg ist eine zusätzliche Belastung für den – emotionalen – Energie-Haushalt dazugekommen, von der Klimakatastrophe und all den anderen schlechten Nachrichten ganz zu schweigen.
Wer dieser Tage bei Helene Fischer mit Zehntausenden im Chor singt, wer in der Fankurve Fremden in die Arme fällt, wer dem Australier am Nebentisch zuprostet, wer die Vernunft zusammen mit den Sorgen für den Moment loslässt, lädt damit seine emotionalen Akkus wieder auf. Schafft positive Erinnerungen, füllt den Resilienzspeicher. Sich über die Feiernden nur zu empören, greift deswegen zu kurz – auch wenn freilich nicht jeder solche Massenevents braucht. Und ganz gleich, ob im Bierzelt oder beim Waldspaziergang: Emotionale Energiereserven sollten jetzt alle anlegen. Denn die Wintermonate werden uns viel Kraft kosten.