Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Europa ist gefangen in der Logik des Krieges

Kommentar

Europa ist gefangen in der Logik des Krieges

    • |
    Die Kriegsdienstverweigung wurde unterzeichnet in dem Gedanken, dass es nie wieder zu Krieg kommen würde.
    Die Kriegsdienstverweigung wurde unterzeichnet in dem Gedanken, dass es nie wieder zu Krieg kommen würde. Foto: Bunk (Symbolbild)

    Harry Mulisch, Sohn einer jüdischen Mutter und eines Nazi-Kollaborateurs, hat einmal von sich gesagt, er sei der Zweite Weltkrieg. Mulisch, der in Deutschland auch wegen seiner Reportage über den Eichmann-Prozess (Strafsache 40/61) bekannt ist, gehörte einer kaum noch existenten Generation an, die bereits die Erfahrung machen musste, dass Gewalt alltäglich sein kann. Und Mulisch schrieb (wenn auch in zugegeben sehr anderem Zusammenhang) einmal diesen, bis zum 24. Februar 2022 in der westlichen Wahrnehmung allerdings sehr allgemeingültigen Satz: „Was in zehntausend Kilometern Entfernung geschieht, ist nicht geschehen.“

    Das galt jahrzehntelang für die meisten Europäer, wenn es um Krieg geht. Angegriffen und überfallen zu werden, sich verteidigen und vielleicht töten zu müssen – das war sehr fern. Dass der blutige und grausame Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien noch gar nicht so lange her ist, er aber wie auch der Afghanistan-Einsatz im Selbstbewusstsein vieler Europäer keine unmittelbare Kriegserfahrung darstellt, spricht – leider – eher für als gegen diese These.

    Nie wieder Krieg: Die verinnerlichte Gewissheit von Generationen

    Dann kam der 24. Februar 2022. Wladimir Putin befiehlt den Überfall auf die Ukraine, droht sogar mit Atomschlägen, der Krieg ist zurück. Und mit ihm die Angst. So unmittelbar – und so medial befeuert – wie seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Die Medienkarriere des eigentlich schon älteren Begriffes „Doomscrolling“ – das übermäßige Konsumieren schlechter Nachrichten – kommt jedenfalls nicht von ungefähr. Die Erschütterung dahinter allerdings reicht viel tiefer.

    Denn die Frage, die sich sehr viele Menschen gerade stellen, lautet: Könnte ich zur Waffe greifen, auf einen Menschen zielen, abdrücken, ein Leben beenden? Oder: Wäre ich stark? Held oder Opfer?

    Endgültige Antworten darauf gibt es natürlich nicht. Weil sich zumindest für die Deutschen diese Frage (noch und Gott sei Dank) nicht in aller Brutalität stellt. Weil es am Ende von der Situation abhängen würde. Weil der Krieg und die Gewalt für die, die nicht auf dem Schlachtfeld – und genau das ist es – waren, abstrakt bleiben muss.

    Rechtsstaat Deutschland ließ Gewalt zu einer Ausnahme werden

    Was aber in dem eigenen verschämten Unbehagen, vielleicht nicht den (propagandistisch verstärkten) Mut eines Ukrainers zu haben, helfen könnte, ist, sich klarzumachen, wie übergriffig die Logik des Krieges ist: Bis zum 24. Februar galt, dass der zivilisatorische Fortschritt von Jahrzehnten des Friedens gerade darin besteht, eben keine Haltung zum Töten entwickeln zu müssen. Natürlich war die Kriegsdienstverweigerung nach dem Abitur damals ernst gemeint.

    Aber sie wurde unterzeichnet in dem Urvertrauen, dass es so weit nie wieder kommen würde. Nie wieder Krieg, das war doch kein Slogan, sondern die verinnerlichte Gewissheit von Generationen. Wer bisher nicht wertgeschätzt hat, wie herausragend außergewöhnlich diese Friedenszeit war, wie einzigartig auch die diese Jahrzehnte ermöglichende politische Leistung, den hat die sogenannte „Zeitenwende“ bekehrt.

    Die aber am Ende natürlich keine Wende ist, denn Krieg und Gewalt waren immer da. Sie waren nur – gefühlt – tausende Kilometer entfernt. Obwohl das nie stimmte. Der empfundene Zivilisationsbruch ist auch deshalb so krass, weil wir „Gewaltverleugner“ geworden sind, wie es der Historiker Jörg Baberowski („Räume der Gewalt“) zu Recht nennt. Dafür gab es gute Gründe. Ein funktionierender Rechtsstaat etwa hat in Deutschland Gewalterfahrungen zu einer Ausnahme werden lassen. Dieses Leugnen, der Selbstbetrug, ist nun keine Möglichkeit mehr. Das ist gut und zugleich doch sehr falsch.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden