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Selenskyj will Wahl verschieben: Wie demokratisch ist die Ukraine?

Kommentar

Wie demokratisch ist die Ukraine?

Simon Kaminski
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    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich klar gegen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024 ausgesprochen.
    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich klar gegen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024 ausgesprochen. Foto: Philipp von Ditfurth, dpa

    In Russland und in der Ukraine stehen turnugemäß im Frühjahr 2024 Präsidentschaftswahlen an. Doch diese Parallelität wird es nicht geben, denn der ukrainische Amtsinhaber Wolodymyr Selenskyj hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Wahl mitten im Krieg gegen den russischen Aggressor nicht stattfinden wird. „Jetzt hat die Verteidigung des Staates, der Kampf für die Freiheit und die Vernichtung der Besatzer Vorrang“, sagte der Staatschef am Montagabend. Der Autokrat Wladimir Putin wird sich hingegen nach allem, was man weiß, erneut der Wahl-Zeremonie stellen. 

    Verkehrte Welt? Nein. Russland ist eine Diktatur, die Wahlen sind eine Farce. Die Ukraine hingegen ist eine Demokratie, in der Wahlen aus guten Gründen auf absehbare Zeit nicht stattfinden können. Eine durchgepeitschte Abstimmung über das Präsidentenamt hätte der Demokratie dort eher geschadet als genutzt.

    Die Verfassung schließt Wahlen aus, so lange Kriegsrecht gilt

    Zum einen, weil sie der gültigen Rechtsprechung zuwiderlaufen würde: Die ukrainische Verfassung untersagt Wahlen so lange Kriegsrecht gilt. Es gilt als sicher, dass dieses Kriegsrecht vom Parlament in den nächsten Tagen erneut und wohl nicht zum letzten Mal um weitere 90 Tage verlängert wird. Zum anderen, weil organisatorische und politische Gründe dafürsprechen, dass ein Land, das um seine Existenz kämpft, Wahlkampf und Wahl verschiebt.

    Die Probleme liegen auf der Hand. Welchen Wert hätte eine Wahl ohne die Stimmen der vielen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach dem russischen Generalangriff ins europäische Ausland geflohen sind? Diese Wähler einzubeziehen wäre logistisch derzeit kaum machbar. Gleiches gilt auch für die Soldaten, die oft wochenlang an der Front kämpfen. Ganz unmöglich ist eine Beteiligung der Ukrainer in den von den russischen Invasoren besetzten Gebieten. Auf ihr Votum kurzerhand zu verzichten, würde dem wichtigsten Kriegsziel, Moskau die Ostukraine sowie Teile des südlichen Territoriums und auch die Krim wieder zu entreißen, zuwiderlaufen. 

    Auch die Opposition spricht sich dagegen aus

    Tatsächlich gibt es Stimmen, die von Kiew verlangen, die Wahlen dennoch vorzubereiten und durchzuführen. Diese Stimmen kommen weniger aus der ukrainischen Opposition, die sich fast geschlossen dagegen ausgesprochen hat. Nach Umfragen lehnt auch eine klare Mehrheit der Bevölkerung Wahlen im Krieg ab. Appelle aus dem Ausland sind mit Vorsicht zu genießen. Vor allem, wenn sie aus Kreisen der US-Republikaner kommen, die in Treue fest zu ihrem voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump stehen und denen jedes Mittel recht ist, um die Unterstützung für Selenskyjs Abwehrkampf zu unterminieren. 

    Der ukrainische Präsident konnte sich immerhin sicher sein, dass sein Nein zu Wahlen im kommenden Frühjahr die Chancen auf erfolgreiche Beitrittsgespräche mit Brüssel nicht schmälern würde. Tatsächlich spielte das Thema am Mittwoch bei der Vorstellung des Berichtes der EU-Kommission zu den Fortschritten beitrittswilliger Staaten keine Rolle. Es kam wie erwartet: Die EU-Kommission empfiehlt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. 

    Brüssel fordert Kiew auf, begonnene Reformen abzuschließen

    Allerdings wird Kiew aufgefordert, vor dem Start der konkreten Gespräche bereits begonnene Reformen abzuschließen. Dabei geht es um Themen wie Korruption, Geldwäsche und die noch immer bestehende Macht von Oligarchen im Land. Nun steht noch die Zustimmung der Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfeltreffen Mitte Dezember aus. Auch Moldau, das sich massivem politischen Druck Moskaus ausgesetzt sieht, und mit Einschränkungen Bosnien-Herzegowina haben gute Chancen auf den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen.

    Natürlich bewegen sich Brüssel, aber auch Kiew auf schwankendem Terrain, wenn es darum geht, wie und vor allem wann die Ukraine Teil der EU werden kann. Aus Rücksicht auf die Lage des Landes wurden die zum Teil erheblichen Zweifel bei einigen Mitgliedstaaten an der EU-Tauglichkeit der Ukraine und vorhandene Sorgen über die Folgen eines Beitritts eher verhalten geäußert. Doch das dürfte sich nun, da das Beitrittsverfahren an Fahrt aufnimmt, ändern.

    Auf der anderen Seite wird in vielen Hauptstädten anerkannt, dass sich die Ukraine trotz der militärischen Bedrohung im Wandel befindet. Das gilt vor allem für die Bevölkerung, die umso eindrucksvoller für Demokratie und Pluralismus eintritt, je offener Moskau diese Werte mit Füßen tritt. Es gibt berechtigte Hoffnungen, dass selbstbewusste Ukrainerinnen und Ukrainer nach dem Ende des Krieges Korruption, autokratische Politiker und übergriffige Oligarchen nicht mehr akzeptieren werden. Allerdings werden sie dazu nur die Möglichkeit haben, wenn Moskau diesen Krieg nicht gewinnt – dafür wiederum bedarf es einer nicht nachlassenden Unterstützung des Westens.  

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