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Kommentar: Wer, bitteschön, braucht eine deutsche "Leitkultur"?

Kommentar

Wer, bitteschön, braucht eine deutsche "Leitkultur"?

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    Die Basis für das Gemeinwesen: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
    Die Basis für das Gemeinwesen: das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Foto: Stephanie Pilick/dpa

    Als Carsten Linnemann vergangene Woche den Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm der CDU vorstellte, zählte er auch das geleistete Arbeitspensum auf. 215 Sitzungen habe es bedurft, um die 71 Seiten zu verdichten. Wie viele Tassen Kaffee in all den Zusammenkünften nötig waren, müsse noch ausgerechnet werden, meinte der Generalsekretär noch. Egal, wie viele es waren, so richtig wach können sie in der Programm- und Grundsatzkommission in all den Sitzungen nicht gehalten haben. Sonst hätten die Sitzungsteilnehmer wohl kaum elfmal das Wort "Leitkultur" in den Entwurf geschrieben. 

    Hier zum Beispiel: "Mut zur Leitkultur! Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält. Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen. Zu unserer Leitkultur gehören die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Grund- und Menschenrechte, unser Rechtsstaat, Respekt und Toleranz, das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels. Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden." Weiter im Text geht es dann kurioserweise mit dem Punkt "Zusammenhalt stärken", die Bindekräfte fördern, unterschiedliche Milieus zusammenführen. Dass man das mit dem dann vorgeschlagenen, verpflichtenden Gesellschaftsjahr erreichen kann, erscheint durchaus plausibel. Aber mit einer "Leitkultur"?

    Die Diskussion um die Leitkultur ist von gestern

    Die Diskussion über diesen strittigen Begriff ist so alt, so von gestern, dass sie noch weiter zurückreicht als Friedrich Merz' erste, gescheiterte Karriere als CDU-Spitzenpolitiker. 1996 verwendete der über Jahre in Göttingen lehrende Politikwissenschaftler Bassam Tibi ihn erstmals. Seither ist er regelmäßig von diversen Unionspolitikern und auch der AfD vereinnahmt worden. Nun ist er wieder da. Die Frage ist: Wozu?

    Denn niemand, der hier in Freiheit und mit Respekt für seine Mitbürgerinnen und Mitbürger lebt, kann sich dem, was von der Union als Wesen dieser "Leitkultur" benannt wird, entziehen. Das Grundgesetz regelt unser Zusammenleben – ohne Wenn und Aber. Gleiches gilt für das Existenzrecht Israels. Niemand, der sich der grauenhaften deutschen Nazi-Vergangenheit bewusst ist, wird es ernsthaft infrage stellen. So weit, so selbstverständlich. 

    Welchen Kulturbegriff hat die CDU denn?

    Schwieriger wird es bei dem, was die Union noch als "unsere Leitkultur" bezeichnet. Gemeint ist das "gemeinsame Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit", das durch Gesetze nicht erzwungen werden könne, aber "unverzichtbare Voraussetzung für Zusammenhalt" sei. Dazu etwa soll auch das Verständnis "unserer Traditionen und Bräuche" gehören. 

    Aber dieses, und das ist gerade in einem Einwanderungsland selbstverständlich, ist nun mal höchst unterschiedlich. Wen meint die Christlich Demokratische Union denn mit "uns" und "wir"? Und wie definiert sie Kultur? Die sich doch vor allem dadurch auszeichnet, nicht statisch zu sein, sich zu verändern, sich anzupassen, durch Begegnungen zu erneuern. Juden, Muslime, Christen, Atheisten, Zweifelnde – sie alle gehören zu Deutschland. Gemeinsame Basis ist und muss immer die Verfassung sein. Was denn sonst?

    Es gibt ein kleines, auch der Union anzuempfehlendes Büchlein von Maurizio Bettini, einem italienischen Philologen. Es heißt "Wurzeln – die trügerischen Mythen der Identität". Es gebe, schreibt Bettini, unterschiedliche Betrachtungsweisen von Kultur. Die eine verstehe sie im Plural, die andere im Singular. "Die eine als etwas Offenes, die zweite als Mittel der Abschottung."

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