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Kommentar: Weil Naivität eben kein Verbrechen ist

Kommentar

Weil Naivität eben kein Verbrechen ist

Margit Hufnagel
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    Menschen protestieren auf dem Gelände der Humboldt-Universität Berlin gegen den Krieg im Gazastreifen.
    Menschen protestieren auf dem Gelände der Humboldt-Universität Berlin gegen den Krieg im Gazastreifen. Foto: Paul Zinken, dpa

    Dass deutsche Universitäten Orte der politischen Aufwallung waren, ist lange her. Brav sind sie geworden, die Studentinnen und Studenten. Das höchste der Gefühle schienen Diskussionen um vegane Hauptgerichte in der Mensa und das Gendern in der Vorlesung. Ein starres Studiensystem, aber auch eine Gesellschaft, in der Konsens ein Wert an sich ist, verfehlten ihre Wirkung nicht. Doch seit einigen Tagen rumort es auf den Fluren und Höfen vieler Hochschulen. Der Krieg im Gazastreifen hat seine Lunte nicht nur im Nahen Osten gelegt, sondern auch in Berlin, Leipzig oder Köln. Es kokelt. Zeltstädte wurden aufgebaut, Protestschilder gemalt. Die Demonstranten verurteilen die Militäreinsätze, die Israel seit dem Attentat des 7. Oktober im Gazastreifen unternimmt. 

    Nicht allen, die hier mit Palästinensertuch um den Hals die Faust in den Himmel recken, dürfte es um die Menschen gehen, die unter diesem Krieg leiden. Wo sind sonst die Uni-Proteste gegen die Gewalt im Sudan, gegen die Schreckensherrschaft in Afghanistan, gegen das frauenverachtende Regime im Iran? Vorurteile und Halbwahrheiten mischen sich mit berechtigter Sorge vor dem, was noch geschehen wird im Kampf zwischen Israel und der Hamas. Aufgeregte Parolen von Politikerinnen und Politikern mischen sich mit Rufen nach einem Verbot der Protestcamps. „Fassungslos“ zeigte sich etwa Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger. Es sei ihr zugestanden. Nur: Ändern wird sie damit nichts. Und das ist auch gut so. Denn die Gaza-Proteste sind ein Lehrstück darüber, woran es vielen Menschen hierzulande mangelt: die Fähigkeit, auch einmal etwas auszuhalten, was der eigenen Überzeugung diametral widerspricht. 

    Wer sich strafbar macht, muss bestraft werden

    Natürlich: Jede Gesellschaft definiert ihre eigenen Werte. Und die gilt es zu verteidigen. Dass Deutschland besonders sensibel reagiert, wenn es um den Staat Israel und alle dort lebenden Menschen geht, ist eine der wichtigsten Lehren, die wir aus der Geschichte gezogen haben. Aber nicht immer sind Handschellen und Blaulicht die richtigen Mittel. Schon gar nicht auf einem Campus. Wer reflexartig nach der Polizei ruft, sollte sein eigenes Verständnis von Meinungsfreiheit zumindest hinterfragen. Nur weil es, wie in diesem Fall, der „richtigen“ Seite dient, heißt das nicht, dass alle, die einen anderen Blick auf die Dinge haben, schweigen müssen. Nein, auch Naivität und politische Kurzsichtigkeit sind nicht verboten. Viel mehr noch: Es ist eine der größten Errungenschaften eines demokratischen Rechtsstaates, dass er auch all jene schützt, die ihn herausfordern. Wer das infrage stellt, mag sich moralisch überlegen fühlen, ist aber in Wirklichkeit vom Argumentationsmuster eines Wladimir Putin oder eines Xi Jinping direkt auf der Spur. 

    Wenn die Schwelle zum Strafbaren überschritten wird, soll und muss der Staat handeln – und zwar unmissverständlich. Dazu gehört die strikte Verfolgung antisemitischer Straftaten. Dazu gehört mit Blick auf die Universitäten selbst die Pflicht, allen jungen Menschen ein Studium ohne Bedrohung zu ermöglichen. Sollten jüdische Studierende Angst haben, den Campus zu betreten, liegt es in der Verantwortung der akademischen Leitung, dem vehement entgegenzutreten. Was sie nicht garantieren kann, ist – so schwer das manchmal auszuhalten sein mag – abweichende politische Meinungen, die lautstark vorgetragen werden, zu unterbinden. Gerade eine Universität ist ein Ort der Auseinandersetzung mit anderen Haltungen, ein Ort der Kontroverse. 

    Empathie lässt sich nicht erzwingen

    Im Nahostkonflikt sei ohnehin vor einfachen Antworten gewarnt. Und zwar auf beiden Seiten. Begonnen hat den Krieg die Hamas, die Israel seit Jahrzehnten mit Terror überzieht. Doch auch die in Teilen rechtsextreme Regierung von Benjamin Netanjahu muss sich fragen lassen, ob sie den Ansprüchen, die zu Recht an ein zivilisiertes Land gestellt werden, wirklich gerecht wird. Für die Demonstranten gilt: Wer Mitleid mit den Zivilisten in Rafah hat, ist nicht automatisch ein Antisemit. Er muss noch nicht einmal genauso viel Mitleid mit den in Tunneln darbenden israelischen Geiseln haben. Empathie ist nichts, was wir von anderen einfordern können. Wenn junge Frauen in bauchfreien Oberteilen ihre Sympathie für Steinzeit-Islamisten bekunden, dürfen wir den Kopf schütteln – ihnen den Mund verbieten dürfen wir nicht. Wer sich an den Demonstrationen stört, kann Gegendemonstrationen organisieren. Wie das geht, haben vor einigen Wochen hunderttausende Menschen in Deutschland gezeigt.

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