40 Jahre danach wirkt Nenas Song „von 99 Luftballons / Und dass so was von so was kommt“ naiv. Am 24. Januar 1983 war er erstmals in den deutschen Charts und wurde ein Welterfolg. Ausgerechnet die Neue Deutsche Welle, die mit Markus’ „Ich will Spaß“ im Sommer 1982 einen Hit hatte, brachte ein Antikriegslied hervor, das mit „Sag mir, wo die Blumen sind“ oder „Imagine“ in einer Reihe steht.
Zuvor, am 24. April 1982, war eine 17-Jährige mit weißer Gitarre voll und ganz eins mit dem Zeitgeist geworden. Nicoles Eurovision Song Contest-Siegertitel „Ein bisschen Frieden“ hatte die passende Botschaft in einer Zeit, in der der „Kalte Krieg“ ein „heißer“ zu werden drohte und die Anti-Atomkraft-, Umwelt- und Friedensbewegung immer größeren Zulauf bekam. Sowjetische Truppen waren in Afghanistan einmarschiert, der Nato-Doppelbeschluss sah vor, dass nukleare Mittelstreckenraketen in Westeuropa stationiert werden. Anfang April 1982 hatte der Falklandkrieg begonnen. „99 Luftballons“ und „Ein bisschen Frieden“ erschienen damals schon, gerade innerhalb der Friedensbewegung, als naiv. Und doch konnten und können solche Lieder Zusammenhalt schaffen oder stärken sowie das Nachdenken über Politik massenkompatibel machen.
Es ist schlecht bestellt um die Friedensbewegung, und das liegt an ihr selbst
Nenas und Nicoles Musik ist geblieben, aber was ist mit der Friedensbewegung? Die Hunderttausenden jedenfalls, die sich Anfang der 80er zu Friedensdemos zusammenfanden, sind heute um die 60 und älter. Sie nehmen möglicherweise verwundert oder verbittert zur Kenntnis, dass der Ukraine-Krieg eher wenige auf die Straße treibt; dass Medien fragen, was die Friedensbewegung eigentlich tue, ihr Sprachlosigkeit bescheinigten und sie totsagten. Heute sorgen vor allem die – auch schon älteren – Erstunterzeichner offener Briefe für Schlagzeilen. Es ist schlecht bestellt um die Friedensbewegung, und das liegt an ihr selbst.
Der Leipziger Kultursoziologe Alexander Leistner erinnerte daran, dass in Aufrufen zu Ostermärschen 2022 „eine maßgebliche Schuld des Westens am Überfall auf die Ukraine“ formuliert wurde. Es gebe Rechtsverschiebungen und Aneignungen des Friedensthemas durch die extreme Rechte. Der Eindruck habe sich erhärtet, der Bewegung sei das Schicksal der Ukraine „schlicht egal“.
Die Friedensbewegung müsste sich ein Jahr nach Kriegsbeginn stärker engagieren
Fast ein Jahr nach Beginn des vom russischen Präsidenten Putin gestarteten Unterwerfungskrieges ist es erschreckend, zu sehen, was aus Teilen der vielschichtigen und vielstimmigen Bewegung kam – und weiter kommt. So warnte die „Evangelische Friedensarbeit“ zum Amtsantritt von Verteidigungsminister Boris Pistorius vor einer zunehmenden Kriegslogik in Deutschland und zitierte direkt im Anschluss die Vorsitzende der „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden“ mit dem Satz: „Es ist im Interesse der Rüstungsindustrie, dass vorhandene Waffen verbraucht und neue unter realen Bedingungen des Schlachtfeldes getestet werden.“ Kein Wort zu den Bitten der Ukraine nach Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung.
Im Unterschied zu Sängerinnen und ihren Songs müsste von organisierten Friedensengagierten fast ein Jahr nach Kriegsbeginn mehr kommen, auch mehr als der bloße Ruf nach Verhandlungen – erst recht, wenn sie außer Acht lassen, dass Putin die nicht will. Eine Friedensbewegung, die nach realistischen und konstruktiven Wegen zu einem Kriegsende suchen würde, statt in Deutungsmustern der 80er Jahre oder rigorosen Positionen zu verharren, wäre in den aktuellen Debatten eine wichtige Stimme.