Als die ukrainische Armee vor einem Jahr in Butscha einzog, bot sich den Befreiern ein Bild des Grauens. Auf Straßen und Bürgersteigen, in Höfen und Gärten lagen Leichen ermordeter Zivilisten. Viele von ihnen trugen Folterspuren. Es traf ganze Familien. Alte und Kinder, Frauen wie Männer. Mehr als 450 Tote zählten die Ermittler später, und das in einem militärisch völlig unbedeutenden Vorort von Kiew. Die mutmaßlichen Täter: frustrierte, teils einfach nur gelangweilte russische Soldaten.
Man könnte die Namen vieler weiterer ukrainischer Orte anführen, in denen sich ähnliche oder sogar schlimmere Szenen abgespielt haben. In Mariupol vor allem, aber auch in Isjum, Kramatorsk und anderswo mehr. Butscha jedoch ist zum Synonym schlechthin für den verbrecherischen Angriffskrieg geworden, den der russische Präsident Wladimir Putin in der Ukraine führen lässt. Weil Butscha die Stadt ist, in der die entmenschlichte Brutalität der russischen Armee so schlagartig in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar wurde.
Wladimir Putin trägt die letzte Verantwortung dafür
Keine Frage: Putin trägt die letzte Verantwortung für all die Morde, Vergewaltigungen und Verschleppungen, für die Folter und den Terror gegen die Zivilbevölkerung. Juristisch gilt zwar die Unschuldsvermutung. Aber politisch und moralisch ist die Sache eindeutig. Denn all die Verbrechen haben ihre Wurzel in Putins Befehl, die Ukraine zu überfallen – mit dem Ziel, das Nachbarland als unabhängigen Staat mit eigener Kultur und Geschichte zu vernichten. Es ist ein imperialer, in Teilen genozidaler Eroberungskrieg, den Putin genau so wollte.
Man muss sich das noch einmal vor Augen führen, um das ganze Ausmaß des Zivilisationsbruchs zu erfassen, für den der Name Butscha steht. Als Mahnung auch an all jene Menschen außerhalb der Ukraine, die sich inzwischen „irgendwie“ an diesen Krieg gewöhnt haben und sich lieber wieder anderen Dingen zuwenden. Die Abkehr vom Grauen ist psychologisch verständlich. Aber sie ist auch gefährlich. Weil das Wegschauen dem Aggressor sein verbrecherisches Tun erleichtert.
Insofern war es richtig und wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof kürzlich einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erlassen hat. Auch wenn es darin „nur“ um einen Teilaspekt der Kriegsverbrechen geht, nämlich die Verschleppung von Kindern: Putin wird diesen Haftbefehl nie wieder los. Denn die verübten Straftaten verjähren nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass der russische Präsident eines Tages tatsächlich auf der Anklagebank sitzen wird, ist derzeit zwar gering. Ein solches Szenario ist nur denkbar, wenn sich die Machtverhältnisse in Moskau fundamental ändern. Das aber deutet sich nicht an. In jedem Fall jedoch wird die Geschichte, von der Putin so besessen ist, ein vernichtendes Urteil über ihn fällen. Nicht zuletzt wegen der Verbrechen, für die Butscha das Synonym ist.
An all dem ändert im Übrigen auch die Tatsache nichts, dass westliche Staaten das Völkerrecht in der Vergangenheit ebenfalls mit Füßen getreten haben. Allen voran die USA. Die Liste der Verfehlungen allein im neuen Jahrhundert ist lang. Ganz oben steht die illegale Inhaftierung Terrorverdächtiger als „irreguläre Kombattanten“ im Gefangenenlager Guantanamo – ohne Prozess, meist nach Verschleppungen und Folter.
Man darf nicht ein Unrecht mit einem anderen legitimieren
Es folgte der Angriffskrieg im Irak. Und auch die exterritorialen, staatlich exekutierten Tötungen der Al-Kaida-Führer Osama bin Laden und Aiman al-Sawahiri waren mit dem Völkerrecht nicht zu vereinbaren. All diese Taten haben dem Ansehen der USA, des Westens insgesamt und dem internationalen Recht schwer geschadet. Sie ändern aber nicht das Geringste am Urteil über Putins Menschheitsverbrechen. Zumal sich eine Schandtat niemals mit Verweis auf andere Schandtaten legitimieren lässt. Wer mit solchen Relativierungen anfängt, landet in einer Endlosspirale aus Rechtlosigkeit und Verbrechen.