Eigentlich war die Zeit für Schwarz und Grün schon vor der Bundestagswahl im September reif. Doch beide Lager haben seinerzeit mit Armin Laschet und Annalena Baerbock nicht die stärksten Kandidaten aufgeboten. Nur wegen dieser entscheidenden Fehler konnte sich Olaf Scholz durchsetzen und für seine SPD das Kanzleramt erobern. Gegen Markus Söder und Robert Habeck als Konkurrenz hätte Scholz keine Chance gehabt. Nun bekommt also Nordrhein-Westfalen eine schwarz-grüne Landesregierung, wenn in den nächsten Wochen kein politischer Unfall passiert. Im Bundesland mit den meisten Einwohnern wird wohl im Kleinen erprobt, was im großen Ganzen noch nicht zusammenging.
Das Bündnis wirkt deshalb so attraktiv, weil es zwei widerstrebende Leitmotive unserer Zeit versöhnen kann. Einerseits die so notwendige radikale Abkehr von unserer Art zu leben und zu wirtschaften, um den Planeten zu retten. Andererseits Sicherheit und Vertrautheit zu geben in eben jener Zeit, in der sich alles verändert und verändern muss. Wandel und Heimat sind die Schlagworte für ein schwarz-grünes Projekt. Die Grünen sind für den Umbau der Industriegesellschaft zuständig, CDU und CSU für die Erdung der Menschen durch Sicherheit. Sicherheit vor Kriminellen, kriegswütigen Autokraten und Sicherheit von Arbeitsplätzen.
Schwarz-grüne Koalition – in der Praxis könnte es herzhaft krachen
In Nordrhein-Westfalen steht beides an. Die Chemie-, Stahl- und Kraftwerke an Rhein und Ruhr müssen in anderthalb Jahrzehnten deutlich weniger Treibhausgas in die Atmosphäre schicken als heute. Und sie sollen dabei nicht pleitegehen, sondern auch noch künftig Menschen Arbeit geben. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen nimmt seit einigen Jahren den Kampf gegen kriminelle Clans entschieden auf, hat sie aber noch nicht besiegt. Die Weltbilder, auf denen Grüne und Union ideologisch fußen, ergeben in ihrer Unterschiedlichkeit etwas Stimmiges, wie es Komplementärfarben in der Kunsttheorie tun.
Natürlich ist alle Theorie grau und auch ein Komplementärkontrast bleibt ein Kontrast. Ob ein Bündnis funktioniert, hängt maßgeblich von den handelnden Politikern ab und den politischen Umständen. So stürzt der Deutschland überraschende Überfall Russlands auf die Ukraine die SPD in eine tiefe Identitätskrise. Der Politik einer schwarz-grünen Koalition können die Leitmotive Wandel und Sicherheit Orientierung geben, in der Praxis kann es dennoch herzhaft krachen.
Aktuell zum Beispiel streiten Grüne und CDU/CSU heftig darüber, ob nur in die Bundeswehr massiv mehr Geld gesteckt werden soll oder gleichzeitig auch in die Entwicklungshilfe zur Stabilisierung von Krisenstaaten. Das Ziel einer schlagkräftigen Armee haben sie beide, von selbst fügen sich die Dinge aber nicht.
Bleibt bis zur nächsten Bundestagswahl das Spitzenpersonal dasselbe, spricht viel dafür, dass Grüne und Konservative zusammenfinden. Habeck und Baerbock haben den linken Fundi-Flügel ihrer Partei gestutzt und sie voll auf Regierungsverantwortung getrimmt. Um der Macht Willen können sie mit allen und jedem mit Ausnahme der AfD.
Friedrich Merz muss milder werden
Friedrich Merz konnte am Wahlsonntag lernen, dass CDU-Politiker erfolgreich sind, die mit der Methode Merkel operieren, die Merz vom Herzen zutiefst zuwider ist. Nicht zu weit rechts, nicht zu schneidig, nicht zu maskulin sind die Attribute von Hendrik Wüst und auch die des Wahlsiegers Daniel Günther aus Schleswig-Holstein. Es ist ein milder Konservatismus, der den größten Erfolg verspricht. Merz wird also an sich arbeiten und seinem scharfen Profil die harten Kanten nehmen müssen. Tut er das nicht, gerät er in Gefahr, durch Wüst oder Günther verdrängt zu werden.
Nach Nordrhein-Westfalen könnte nächstes Jahr in Bayern ein weiteres öko-konservatives Bündnis geschmiedet werden. Wenn die zwei größten Länder von solch einer Koalition regiert werden, ist es ein Modell für den Bund. Ob es schlussendlich 2025 Wirklichkeit wird, ist trotzdem völlig offen. Wer, außer ihm selbst, hatte vor der Bundestagswahl einen Pfifferling auf Olaf Scholz gegeben?