Längst ist die Erinnerungskultur zentraler Bestandteil der gesamtdeutschen Staatsräson. Alljährlich gedenkt der Bundestag am 27. Januar der Befreiung von Auschwitz, am 8. Mai finden Kranzniederlegungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs statt, am 9. November wird der Reichspogromnacht von 1938 gedacht. Die Politik übt sich dann in lang erprobten Ritualen, die oftmals mehr der eigenen moralischen Aufwertung dienen als einem Erinnern, das bis tief in die Gesellschaft hineinwirkt. Erreicht wird das Gegenteil von dem, was eigentlich gewollt ist. Die Folgen sind Gleichgültigkeit und Desinteresse.
Hitler und das "Dritte Reich": Mangelhaftes Wissen bei Schülern in Deutschland
Noch bezeichnender ist die Lage an deutschen Schulen. In einer breit angelegten Studie untersuchten Forscher vor einigen Jahren das historische Wissen von Schülerinnen und Schülern der neunten und zehnten Klassen. Eines der erschütternden Ergebnisse: Rund 40 Prozent der Jugendlichen konnten kaum einen Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik ausmachen. Auch ein oft "aktionistisches Gedenkstättenhopping" sahen die Forscher kritisch. Vielmehr sollte Zeit in Vor- und Nachbereitung der Gedenkstättenbesuche investiert werden.
78 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges tritt zudem eine unausweichliche Entwicklung zutage: In wenigen Jahren werden die meisten Menschen verstorben sein, die Krieg und Verfolgung bewusst erlebt haben. Gerade deren Erfahrungen schafften es in der Vergangenheit, große Geschichte im Kleinen erfahrbar zu machen.
Die Erinnerungskultur steht somit an einer Wegscheide. Es braucht neue Akzente, um Erinnertes auf nachhaltige Weise in den Köpfen der Menschen zu verankern. 2018 starteten Münchner Wissenschaftler ein Projekt, das aufhorchen ließ. Mithilfe von Hologrammen ließen sie Holocaust-Überlebende auf Leinwänden plastisch von ihren Erfahrungen erzählen. Das Videomaterial zeichneten sie zuvor mit den Zeitzeugen über viele Stunden auf. Natürlich hat auch diese Methode ihre Schwächen, trotzdem schaffte sie neue Möglichkeiten des Erinnerns. Die Künstliche Intelligenz wird weitere Türen in Räume öffnen, von deren Existenz heute noch niemand wissen kann. Auch bei diesen Möglichkeiten muss aber gewährleistet bleiben, dass keine Geschichtsklitterung passiert.
Erinnerungskultur in Deutschland sollte nicht "germanozentrisch" sein
Wichtig ist der Anspruch, wirklich alle mitnehmen zu wollen – auch Menschen mit Migrationshintergrund. Lange war die Erinnerungskultur "germanozentrisch" ausgerichtet, wie es der Historiker Michael Wolffsohn ausdrückte. Deutsche sollten von den Verbrechen ihrer Väter und Großväter erfahren. Doch die Gesellschaft hat sich gewandelt, knapp ein Viertel der hierzulande lebenden Menschen hat einen Migrationshintergrund. Nachhaltiges Erinnern sollte nicht zum Ziel haben, die Schuldlast der Großeltern auf die Schultern unbeteiligter Nachkommen abzuladen. Sondern dazu beitragen, dass Despotie und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Zukunft keine Chance haben. Dann würde Kriegsverbrechern wie dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht von derart vielen Menschen Verständnis entgegengebracht. Und der Antisemitismus, der in Teilen auch von Menschen mit muslimischem Hintergrund ausgeht, würde abnehmen.
Grundbedingung bleibt, dass bei möglichst vielen Menschen Interesse für Geschichte geweckt wird. Aber nicht mit erhobenem Zeigefinger und dem einschüchternden Hinweis, welche Verbrechen der eigene Urgroßvater im Zweiten Weltkrieg begangen haben könnte. Vielmehr sollte die Aufklärung alltäglich erfolgen, nicht durch abstrakte Rituale, sondern durch erfahrbare Erlebnisse, die die Herzen und Seelen der Zuhörer erreichen.