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Kommentar: Wahlrechtsreform: Wenn die Politik die Bodenhaftung verliert

Kommentar

Wahlrechtsreform: Wenn die Politik die Bodenhaftung verliert

Rudi Wais
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    Heute stimmt der Bundestag über die Wahlrechtsreform ab. Aktuell sitzen dort 736 Abgeordnete.
    Heute stimmt der Bundestag über die Wahlrechtsreform ab. Aktuell sitzen dort 736 Abgeordnete. Foto: Kay Nietfeld, dpa (Archivbild)

    Wenn ein Dorf für eine Umgehungsstraße kämpft, eine Kirchengemeinde gegen die Abschiebung eines abgelehnten, aber gut integrierten Asylbewerbers oder ein Unternehmen um seine Arbeitsplätze, ist häufig der örtliche Bundestagsabgeordnete der erste Ansprechpartner. Er (oder sie) kann nicht immer helfen, aber er kann sich kümmern und den Menschen in seinem Wahlkreis das Gefühl geben, dass sie in Berlin gut vertreten sind. Umgekehrt profitiert der Abgeordnete auch selbst von seiner Verwurzelung im

    Wahlrechtsreform: Manche Wahlkreise könnten ohne Abgeordneten bleiben

    Diese Bodenhaftung droht mit der Reform das Wahlrechts jetzt ein Stück weit verloren zu gehen. Je nach Wahlergebnis kann es künftig Regionen von der Größe zweier Landkreise geben, die überhaupt keinen Abgeordneten mehr haben – weil der Direktkandidat wegen der neuen Arithmetik nicht zum Zuge kommt und die Listenkandidaten der anderen Parteien auf den jeweiligen Landeslisten zu weit hinten platziert sind. Neben den heiß diskutierten Gerechtigkeitsfragen ist es das vielleicht größte Manko der Reform: Die zunehmende Entkoppelung des Politischen vom wahren Leben. 

    Ein direkt gewählter Abgeordneter ist seiner Region deutlich mehr verpflichtet als ein Kollege, der über die Liste ins Parlament einzieht. Er lebt dort, er muss sich engagieren, ansprechbar und präsent sein, um wiedergewählt zu werden. Um über die Parteiliste in den Bundestag einziehen zu können, sind andere Talente gefragt: überspitzt gesagt, ist die Verankerung in der Partei, gepaart mit einem gewissen strategischen Geschick, dort wichtiger als die Verankerung vor Ort. 

    Das heißt nicht, dass Listenabgeordnete die Probleme in ihrer Heimat nicht interessieren, so wie die Reform des Wahlrechts angelegt ist, begünstigt sie jedoch tendenziell die Parteitaktiker. Wenn ein Direktmandat keine sichere Bank mehr für den Einzug in den Bundestag ist, werden die vorderen Plätze auf den Landeslisten noch begehrter sein. Und die erobert man nicht, indem man sich um Umgehungsstraßen oder staatliche Zuschüsse für die örtliche Musikschule kümmert, sondern indem man Allianzen in der Partei schmiedet und Parteitagsdelegierte für sich gewinnt. 

    Parteizwänge werden durch Reform im Wahlrecht zunehmen

    Eine Funktionärsdemokratie allerdings ist so ziemlich das Gegenteil einer lebendigen Demokratie. Ja, auch ein direkt gewählter Abgeordneter operiert nicht frei von Parteizwängen, im gegenwärtigen Wahlrecht aber ist die regionale Komponente deutlich stärker ausgeprägt als sie es im neuen noch sein wird. Die Folgen kann man bereits erahnen: Niedrigere Wahlbeteiligungen, wachsende Politikverdrossenheit und ein noch ausgeprägteres Raumschiffdenken im politischen Berlin. Unabhängige oder von den Parteizentralen unerwünschte Kandidaten werden in Zukunft kaum noch eine Chance haben. Damit aber wäre die (dringend nötige) Verkleinerung des teuren Parlaments teuer erkauft. 

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