Das Spitzenkandidaten-Prinzip ist tot. Es lebe die Spitzenkandidatin. Und die heißt für die CDU Ursula von der Leyen. Doch bei allem nun ausgebrochenen Jubel in Kreisen der EVP, des Zusammenschlusses der christlich-demokratischen und bürgerlich-konservativen Parteien Europas – es bleibt ein Makel: Wie schon bei den vergangenen Europawahlen wird von der Leyens Name auf keinem Wahlzettel auftauchen. So zieht die Deutsche nun in den Wahlkampfzirkus, ohne dass Anfang Juni jemand für sie stimmen könnte. Ihre erwartbare Rückkehr an die Spitze der EU-Kommission gleicht daher eher einer Krönung als dem Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Die Brüsseler Behördenchefin wäre gut beraten, diesem Eindruck in den kommenden Wochen entgegenzutreten.
Von der Leyens Bilanz kann sich sehen lassen. Sie lenkte die EU nach anfänglichen Schwierigkeiten gut durch die Corona-Pandemie, und dass sich die Gemeinschaft nach Russlands Einmarsch in die Ukraine in überraschender Geschlossenheit präsentierte, war auch ihr Verdienst. Die Deutsche hat ihr Amt so ausgefüllt – oder smart genutzt? – , dass sie sich zur mächtigsten Kommissionspräsidentin entwickelt hat, die die Gemeinschaft je hatte.
Kommissionspräsidentin: Europäische Verträge sehen keine Direktwahl vor
Zudem trägt nicht von der Leyen Schuld daran, dass das Amt des Brüsseler Behördenchefs nie als gewählter Posten angelegt war. Das System wurde in den Stuben der Hauptstädte erdacht. Dabei ging es den Staats- und Regierungschefs darum, eine Marionette in Brüssel zu installieren, die deren Willen durchsetzen, aber nicht mit deren Macht konkurrieren sollte. Tatsächlich wäre eine Direktwahl der einzige Weg, um wirklich von den Bürgern legitimiert zu werden, noch dazu, wenn es um das höchste Amt Europas geht. Das sehen die europäischen Verträge aber nicht vor.
Theoretisch ist der Aufschrei ihrer Kritiker nachvollziehbar, die sich beschweren, dass das Spitzenkandidatenprinzip ad absurdum geführt wird. Praktisch würde von der Leyen aber selbst bei einer Kandidatur für das EU-Parlament nur auf dem Wahlzettel in Niedersachsen stehen. Ein Sieg wäre also keineswegs repräsentativ für Gesamt-Europa. Außerdem müsste die 65-Jährige nach dem Votum das gerade errungene Parlamentsmandat sofort wieder abgeben.
Von der Leyen sollte sich in Volksnähe versuchen
Um den Sorgen einiger Beobachter entgegenzutreten, sollte sie ihre Kandidatur als Auftrag begreifen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich in Volksnähe versuchen. Europa hat es nötig, dass sie da für ihre Ideen wirbt, wo es am nötigsten ist – bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wofür steht die Deutsche? Woran will sie sich in den kommenden Jahren messen lassen? Will sie ihren Grünen Deal ausbauen? Oder folgt sie den skeptischen Stimmen aus der Wirtschaft und stellt die Klimaschutzpolitik künftig hinten an? Es sind Fragen, die die Zukunft des Kontinents prägen.
Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn ausgerechnet von der Leyen das totgesagte Spitzenkandidatenprinzip wiederbelebt. Sie wurde 2019 von den Staats- und Regierungschefs aus dem Hut gezaubert, weil der französische Präsident Emmanuel Macron den CSU-Mann und Europawahlsieger Manfred Weber im Top-Amt der Brüsseler Behörde verhindern wollte. Für Weber war es eine demütigende, für das EU-Parlament eine schmerzliche Niederlage. Gewinner war das berühmt-berüchtigte Brüsseler Hinterzimmer. Von der viel beschworenen Transparenz auf EU-Ebene, mit der man bei den Bürgern punkten wollte, blieb bei dem Posten-Geschachere leider nicht viel übrig. Zu einer solchen Farce darf es nicht noch einmal kommen.