Unter mangelndem Selbstbewusstsein hat Donald Trump nie gelitten. Am Ende des Prozesses um seine Schweigegeldzahlung an die Pornodarstellerin Stormy Daniels verglich er sich mit einer (nicht unumstrittenen) katholischen Heiligen und Friedensnobelpreisträgerin: "Mutter Teresa könnte gegen diese Anklage nicht bestehen." Da ahnte er wohl schon, was ihm blühte.
Nun also wird die Liste der skandalösen Tabubrüche des 77-Jährigen um gleich zwei historische Rekorde ergänzt: Die zwölf Geschworenen des New Yorker Kriminalgerichts haben ihn als ersten Ex-Präsidenten in der Geschichte wegen einer Straftat verurteilt. Zugleich ist er der erste Kriminelle, der reale Chancen hat, ins Weiße Haus einzuziehen.
Ein Freispruch wäre ein politischer Turbo für Trump gewesen
Dieses Paradox bremst die spontane Genugtuung darüber, dass der Mann, der sich selber brüstete, folgenlos einen Menschen auf der Fifth Avenue erschießen zu können, nun tatsächlich zur Verantwortung gezogen wird. Der Schuldspruch ist überfällig und mehr als berechtigt. Niemand mit halbwegs gesundem Menschenverstand kann nach der sechswöchigen Verhandlung daran zweifeln, dass Trump im Vorfeld der Wahl 2016 seine Affäre mit der Pornodarstellerin Stormy Daniels mit allen Mitteln kaschiert hat. Die Augenzeugen im Gerichtssaal 1530 müssen sich zeitweise gefühlt haben wie in einem Mafia-Thriller.
Ein Freispruch oder das Scheitern des Verfahrens wäre ein Offenbarungseid des amerikanischen Rechtsstaats und ein politischer Turbo für Trump gewesen. Dazu ist es nicht gekommen. "Schuldig in allen 34 Anklagepunkten!" Jedem aufrechten Demokraten muss ein Stein vom Herze fallen.
Donald Trump müsste längst hinter Schloss und Riegeln sitzen
Doch es bleibt ein bitterer Beigeschmack. Seit Jahren schon trägt der Milliardär, der sein Geld mit windigen Immobiliendeals und unerhörten Steuertricksereien machte, seine Verachtung für demokratische Normen und Regeln immer demonstrativer zur Schau. Sein ganzer Erfolg beruht auf dreisten Lügen, übelsten Verleumdungen und kriminellen Einschüchterungen. Er prahlt mit seinen sexuellen Übergriffen auf Frauen, diffamiert seine Kritiker, bepöbelt Richter und Staatsanwälte. Er hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj erpresst, von Beamten Wahlfälschungen verlangt, hochgeheime Regierungsunterlagen entwendet und schließlich einen blutigen Putschversuch angezettelt.
Donald Trump müsste längst hinter Schloss und Riegeln sitzen. Stattdessen schickt er sich an, in einem halben Jahr ins Oval Office zurückzukehren - in das mächtigste und damit verantwortungsvollste Amt der Welt. Diese Katastrophe droht nicht aus heiterem Himmel. Sie entfaltet sich offen spätestens seit Trumps Weigerung, das Ergebnis der Wahl vor vier Jahren anzuerkennen. Doch die amerikanischen Institutionen haben es versäumt, den Durchmarsch des Gesetzesverächters und Möchtegern-Autokraten zu stoppen.
Zwei Amtsenthebungsverfahren durch den Kongress sind gescheitert. Drei weitreichende Strafverfahren wegen der versuchten Wahlfälschung, des Kapitolsturms und des Dokumentenklaus wurden von Politik und Justiz erst ängstlich hinausgezögert und dann von Republikanern blockiert. So muss Trump vor der Wahl im November keinen einzigen ernsthaften Prozess mehr fürchten. Übriggeblieben ist nur der jetzige Schuldspruch in dem bei weitem unwichtigsten Fall - der Fehlbuchung von 130.000 Dollar in seinen Geschäftsunterlagen.
Wird das im extrem polarisierten Klima der USA irgendetwas an den Erfolgschancen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten ändern? Nach den Erfahrungen seit der ersten Anklage vor mehr als einem Jahr sind Zweifel angebracht. Seither sind Trumps Umfragewerte noch gestiegen. Nun dürften nicht nur Wochen bis zur Verkündung des Strafmaßes vergehen, die der republikanische Präsidentschaftskandidat mit dem Gang in die Berufung kontern wird. Selbst eine (eher unwahrscheinliche) Gefängnisstrafe würde er also nicht vor der Wahl antreten müssen.
Vor allem inszeniert sich der Rechtspopulist erfolgreich als politischer Märtyrer. Stolz tragen seine Anhänger T-Shirts mit seinem Fahndungsfoto auf ihrer Brust. Nichts an den Fakten im Schweigegeld-Prozess war wirklich neu. Wer trotz allem bislang erwogen hat, Trump seine Stimme zu geben, der wird sich durch ein formales Urteil nun davon kaum abschrecken lassen.