Noch scheint Markus Söder – wenn auch mittlerweile ziemlich knapp – die Mehrheit der Bayern in seiner Corona-Politik hinter sich zu haben. 52 Prozent der Bürgerinnen und Bürger im Freistaat finden es nach einer repräsentativen Civey-Umfrage für unsere Redaktion „richtig“ oder „eher richtig“, dass Bayern einen Sonderweg geht und die zwischen Bund und Ländern vereinbarte 2G-plus-Regelung nicht auf die Gastronomie ausgedehnt hat. Bundesweit ist es ziemlich genau andersrum. Da hat der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident, einst Frontmann im „Team Vorsicht und Umsicht“, an Zustimmung verloren. Die Grünen spotten schon, er sei ins „Team Leichtsinn“ gewechselt. Söder selbst spricht von „Augenmaß“.
Söder schaut auf die Landtagswahl im Herbst 2023
Nun gut. Mäßigung ist eine Tugend und der Versuch, bei Entscheidungen Maß und Mitte zu finden, ist seit jeher ein Prinzip bürgerlich-konservativer Politik. Doch der Begriff „Augenmaß“ trifft es nicht. Söder hält sich aktuell zurück und entscheidet sich bestenfalls dazu, Entscheidungen zu vertagen. Das gilt für 2G-plus in der Gastronomie. Das gilt für die Hotspot-Regelung in Regionen mit einer Inzidenzzahl über 1000. Und das gilt auch in der Debatte um die offenkundige Ungleichbehandlung der Kulturszene im Vergleich zur Gastronomie. Die Bayerische Staatsregierung hat sich in dieser zweiten Januarwoche zum „Team Durchwurschteln“ gewandelt.
Dafür gibt es durchaus einige sachliche Gründe. Mit der Omikron-Variante – ansteckender, aber im Krankheitsverlauf vielleicht weniger gefährlich – ist eine neue Situation eingetreten. Hochschießende Infektionszahlen müssen, anders als bei der Delta-Variante, nicht zwingend zu einer Überlastung des Gesundheitssystems und insbesondere der Intensivstationen führen. Außerdem gibt die steigende Zahl doppelt und dreifach Geimpfter Anlass zu der Hoffnung, dass es trotz der rasanten Ausbreitung des Virus nicht so schlimm wird. Nur: Man weiß es eben nicht.
Wer vorschnell entscheidet, ist nachher der Depp
Allerdings dürfen dem CSU-Chef selbstverständlich auch parteipolitische Motive unterstellt werden. Sein ganzes Sinnen und Trachten richtet sich auf die Landtagswahl im Herbst 2023. Vergangenes Jahr, als die CSU in Berlin noch in Regierungsverantwortung stand, setzte Söder alles daran, entscheidungsstark und tatkräftig aufzutreten. Mittlerweile ist allen politisch Verantwortlichen klar, dass es in der Corona-Politik nichts mehr zu gewinnen, aber sehr wohl viel zu verlieren gibt. Wer vorschnell entscheidet, kann hinterher schnell der Depp sein. Also lieber nicht anecken und durchwurschteln.
In seiner digitalen Ansprache zum Jahresauftakt richtete Söder den Blick deshalb schon mal auf die Zeit nach Corona. Er sagte, man müsse weiter vorsichtig, dürfe aber nicht hysterisch sein. Er sprach von Freiheit, von den Zukunftschancen Bayerns, von einer Art Aufbauprogramm und einem Neustart für die Kultur. Und er überließ es in der Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung seinen Ministern, nach außen zu vertreten, was man diese Woche alles nicht beschlossen hat. Der Versuch, sich der schwierigen Stimmung in der Gesellschaft geschmeidig anzupassen, ist offenkundig.
Durchwurschteln – in der amerikanischen Politikwissenschaft gibt es dafür den hübschen Fachausdruck „muddling through“ – muss per se keine verkehrte Strategie sein. Dennoch wird Söder bald wieder Farbe bekennen müssen. Die Gesellschaft, allen voran Kinobetreiber, Theaterleute und Kulturschaffende, wartet auf Entscheidungen des Ministerpräsidenten –und zwar unabhängig von den Zielen, die der CSU-Chef verfolgt.