Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Kommentar: Ohne Atomkraft geht es (noch) nicht

Kommentar

Ohne Atomkraft geht es (noch) nicht

Rudi Wais
    • |
    Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks (AKW) Isar 2.
    Wasserdampf steigt aus dem Kühlturm des Atomkraftwerks (AKW) Isar 2. Foto: Armin Weigel, dpa (Archivbild)

    Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Einen Leitartikel in der Ich-Form zu beginnen: Das gehört sich eigentlich nicht für einen Journalisten. Zu persönlich, zu wenig Abstand zum Thema, zu viel Empathie, wo argumentative Nüchternheit gefragt wäre. In diesem Fall mache ich eine Ausnahme, um zu erklären, warum man gegen die Atomkraft sein kann und gleichzeitig dafür.

    Als junger Wilder habe ich in den Achtzigerjahren gegen den Bau des Atomkraftwerkes in Pfaffenhofen gekämpft, wir standen bei Anti-AKW-Zeltlagern knöcheltief im Matsch, haben bei Ostermärschen gegen die atomare Aufrüstung protestiert und am Bauzaun der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf gegen die Atomgläubigkeit von Franz-Josef Strauß. Einer von uns hat sich sogar an ein Gleis gekettet, um einen Transport mit Brennelementen zu stoppen, und landete dafür später im Gefängnis. Die Atomenergie, sei es als Waffe oder als Reaktor: Sie machte uns Angst.

    Putins Krieg hat vermeintliche Gewissheiten entlarvt

    Diese Sorge hat sich mit der Zeit etwas gelegt, ganz verschwunden ist sie nie. Trotzdem sollte die Koalition ihre zögerliche Haltung bei der Verlängerung der Reaktorlaufzeiten jetzt aufgeben. Der Krieg, den Wladimir Putin führt, hat viele vermeintliche Gewissheiten als naiv entlarvt – auch den Glauben, man könnte nahezu zeitgleich aus Kohle und Kernkraft aussteigen. Deutschland steht vor dem vermutlich härtesten Winter seit Kriegsende, es hat die vermutlich sichersten Atomkraftwerke der Welt, es weigert sich aber, dieses Potenzial zu nutzen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

    Niemand wird erfrieren, wenn er den Thermostat zu Hause um ein Grad herunterdreht, aber Hunderttausende werden arbeitslos, wenn Betriebe aufgeben müssen, weil sie von der Energieversorgung abgeklemmt werden oder Energie noch teurer wird. Zum Schutzversprechen, das konstitutiv für jeden Staat ist, gehört nicht nur der Schutz seiner Bürger vor Gewalt oder Armut, sondern auch der Schutz in existenziellen Situationen. Es geht, ganz platt, um die Zukunft unserer Volkswirtschaft.

    Der Kampf gegen die Kernkraft ist Teil der grünen DNA. Grüne können wortreich erklären, warum es auch ohne Kohle- und Atomstrom geht, aber sie können uns die Sorge nicht nehmen, dass am Ende doch alles zusammenbricht, weil die Sonne nicht lange genug scheint oder der Wind nicht kräftig genug bläst. Zu fragil ist das Geschäftsmodell der Erneuerbaren noch, zu groß unser Hunger nach Energie. Mehr Digitalisierung, mehr Elektromobilität, ein stabiles Wirtschaftswachstum: Deutschlands Bedarf an Strom wird weiter steigen. In Kalifornien, dem gelobten Land der grünen Energien, waren die Netze vor fünf Wochen so überlastet, dass die Versorger an die Besitzer von E-Autos appellieren mussten, ihre Fahrzeuge zu bestimmten Tageszeiten doch bitte nicht zu laden. Soll das die Blaupause für Deutschland sein?

    Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn wir uns aus unserer Abhängigkeit von Russland befreit und die Erneuerbaren nicht nur ausgebaut haben, sondern sie auch speichern können, ist die Zeit reif für den Atomausstieg. Davon aber ist Deutschland heute so weit entfernt wie Putin vom Friedensnobelpreis. Heißt: Die Laufzeiten um einige Jahre verlängern, Brennstäbe bestellen, alle drei noch laufenden Kraftwerke am Netz lassen und notfalls auch abgeschaltete Reaktoren wieder anfahren. Die Atomkraft wird dadurch weder glorifiziert noch verharmlost. Sie ist nur Mittel zum Zweck.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden