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Kommentar: Nur ganz rechts ist ganz tabu: Die Deutschen sind wankelmütig geworden

Kommentar

Nur ganz rechts ist ganz tabu: Die Deutschen sind wankelmütig geworden

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    Wahlplakate mit den Spitzenkandidaten von SPD, Union und Grünen in Frankfurt am Main.
    Wahlplakate mit den Spitzenkandidaten von SPD, Union und Grünen in Frankfurt am Main. Foto: Arne Dedert, dpa (Symbolbild)

    Wir Deutschen haben – zum Glück! – zwar mittlerweile begriffen, dass Wahlen ein Kernelement von Demokratien sind. Mit „Wahlkampf“ tun die Deutschen sich trotzdem weiterhin schwer. Sie wünschen ihn so kurz wie möglich. Kaum gewinnt dieser an Fahrt und wird ein wenig heftiger, schreien viele empört auf, es ginge zu sehr um Personen und zu wenig um Inhalte (ganz so, als hindere irgendeine unsichtbare Kraft die Bürgerinnen und Bürger, sich aus eigener Initiative mit den politischen Inhalten der Parteien zu befassen).

    In diesem Wahlkampf ist alles neu

    Und auch wenn es um Wahlplakate oder Wahlslogans geht, mögen es die Deutschen maximal verständlich. „Keine Experimente“ war schon unter Konrad Adenauer ein Wahlkampfschlager, und wurde von Angela Merkel flugs wiederentdeckt – die den Slogan in „Sie kennen mich“ übersetzte. Im aktuellen Wahlkampf sind sich alle drei Top-Bewerberinnen und Bewerber ums Kanzleramt einig, dass möglichst große Merkel-Imitation der erfolgversprechendste Wahlkampftrick ist. SPD-Kandidat Olaf Scholz ließ sich so aufdringlich mit einer Merkel-Raute fotografieren, dass die Union ihm „Erbschleicherei“ vorhielt. CDU-Mann Armin Laschet setzt Merkel im Wahlkampfendspurt ausdrücklich als Wahlkampf-Wunderwaffe ein. Und Annalena Baerbock möchte verhindern, dass sich jüngere Deutsche an den Gedanken gewöhnen müssen, auch ein Mann könne im Kanzleramt residieren.

    Daher sind Elemente dieser Wahl zutiefst verstörend für die auf politische Übersichtlichkeit geeichten Deutschen. Alles ist neu: Zum ersten Mal tritt eine Amtsinhaberin nicht noch einmal an, Merkel hat vorzeitig ihren Abschied erklärt. Und zum ersten Mal scheint nur eines sicher: Die Volksparteien werden kaum noch Volksparteienergebnisse einfahren – aber wer vorne liegt und wer mit wem koalieren könnte, ist höchst ungewiss. Dementsprechend offen bis vage geben sich auch alle Beteiligten. Olaf Scholz will – oder kann – eine Koalition mit der Linken nicht ausschließen. Er möchte diese zwar selber nicht, aber seine mächtige Parteilinke würde ihm hochgradig übel nehmen, diese Macht-Option vom Tisch zu nehmen. Christian Lindner, möglicher Kanzlermacher von der FDP, mag eine Ampelkoalition mit der SPD und den Grünen auch nicht ausschließen, obwohl er immer noch mit der Union flirtet. Und dann ist da natürlich noch das Schreckgespenst rot-grün-rot, das vor allem die Union hervorzaubert, obwohl die Linke in Prozentpunkten höchstens noch zum Gespenstchen taugt.

    Eines steht fest: Alle schließen ein Bündnis mit Rechten aus

    Generell macht sich eine neue deutsche Unberechenbarkeit bemerkbar. Wer wann schon gewählt hat, ist wegen der massiven Zunahme der Briefwahl schwierig auszumachen. Demoskopie ist viel komplizierter geworden, auch weil die öffentliche Stimmung schwankt, fast im Wochentakt. Mal wurde Baerbock demontiert, mal Laschet, zuletzt war Scholz dran.

    So bleibt bislang nur eine Gewissheit, die aber gar nicht so gering einzuschätzen ist. Als das Trio Baerbock, Laschet und Scholz sich im letzten TV-Duell im Dschungel der Koalitionsoptionen verloren, schrieb ein ausländischer Journalist in einem sozialen Netzwerk, ihn erfreue diese Debatte ganz außerordentlich – auch in ihrer Klarheit. Da stünden die drei aussichtsreichsten Bewerberinnen und Bewerber für das deutsche Kanzleramt – und jede und jeder von ihnen schließe immerhin ein Bündnis mit den ganz Rechten aus. Das überrasche ihn positiv im Vergleich zur Lage in seinem eigenen Land. So gesehen haben wir in Deutschland wenigstens etwas (demokratische) Klarheit, und vielleicht sollten wir uns ab und zu darüber ruhig etwas lauter freuen.

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