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Kommentar: Nehammer-Video: Österreichs Kanzler lebt in seiner eigenen Welt

Kommentar

Nehammer-Video: Österreichs Kanzler lebt in seiner eigenen Welt

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    Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer bekommt derzeit viel Kritik ab - wegen einem Video.
    Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer bekommt derzeit viel Kritik ab - wegen einem Video. Foto: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

    Wenn ihr zu wenig Geld habt, dann arbeitet doch bitte schön einfach mehr. Und wenn das nicht reicht, um euren Kindern eine warme Mahlzeit zu finanzieren – na dann geht halt Burger essen. Das ist die Botschaft, die ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer in jenem Video, das seit Mittwochabend in Österreich für heftige Kritik und Ärger sorgt, seinen potenziellen Wählern ausrichtet. Frauen sollen sich doch gefälligst um Vollzeitstellen bewerben, wenn das Geld knapp wird. Arbeiten will ja keiner mehr, stattdessen will man sich lieber das Arbeitslosengeld einstreifen – das ist der Subtext der Aussagen des Bundeskanzlers. Das kommt einer politischen Selbstaufgabe des konservativen Kanzlers gleich.

    Da hilft auch das Gegenrudern mittels eigenem Social Media-Video am Donnerstagnachmittag nichts. Die Katze ist aus dem Sack. Und Nehammers politische Zukunft ist damit wohl einzementiert: Dass er die ÖVP als Spitzenkandidat in die kommenden Nationalratswahlen im Herbst 2024 führen wird, ist unwahrscheinlich.

    Kanzler Karl Nehammer sagt, dass die Leute nicht arbeiten wollen

    Nehammer sagt, die Leute wollen nicht arbeiten gehen. Das ist erwiesenermaßen falsch: Mehrere Umfragen und Studien zeigen, dass viele Teilzeitbeschäftigte mehr arbeiten wollen, ein Wechsel auf Vollzeit aber kaum angeboten wird. Vor allem Frauen droht die Altersarmut, weil sie – aufgrund fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten – nicht auf die entsprechenden Beitragsjahre kommen. „Teilzeitfalle“ nennt man das in Österreich. Jahrelang weigerte sich die ÖVP, den Ausbau einer flächendeckenden, leistbaren Kinderbetreuung voranzutreiben. Auch aus ideologischen Gründen, schließlich sollte eine Frau ja aus konservativer Sicht lieber zu Hause bleiben, bei den Kindern.

    Dieses Zögern wirkt sich nun, da das Land unter der Rekordteuerung stöhnt, fatal aus – das Lebensmodell, an dem die ÖVP jahrelang festhielt, ist für zahlreiche Familien einfach unleistbar. In Österreich kostet eine 400 Gramm Packung Hackfleisch im Supermarkt zwischen 4 und 6 Euro. Für einen 20-Stunden-Job im selben Supermarkt gibt es, wenn es heiß kommt, brutto rund 1200 Euro – in einem Hochsteuerland, wohlgemerkt. Von ein bisschen mehr Steuerabzug und ein paar hundert Euro an Einmalzahlungen lässt sich der Alltag von Geringverdienern kaum besser bestreiten. Die Mieten im ehemals gut leistbaren Wien gehen durch die Decke. Sind Nehammer diese Fakten nicht bekannt? Will er sie nicht wahrhaben?

    Hat Kanzler Nehammer den Bezug zur Realität verloren?

    Der Eindruck drängt sich auf, dass Österreichs Kanzler völlig den Bezug zur Realität verloren hat. Politisch am schwerwiegendsten ist, dass Nehammer nicht verstehen will oder kann, wie zynisch es für Betroffene sein muss, von der Politik auch noch ausgerichtet zu bekommen, man sei selbst schuld an seiner schwierigen Lage. Wer täglich jeden Euro umdrehen muss, keinen Kita-Platz bekommt und deshalb gezwungen ist, Teilzeit zu arbeiten, bei dem wird es nur zu noch mehr Wut und Frustration führen, immer wieder vorgebetet zu bekommen, wie viel man als Regierung doch tue und ausgebe – und wie gut Österreich doch in Summe noch immer dastehe.

    Dass Nehammer in besagtem Video sogar selbst sagt, er könne die angeblich so tolle Bilanz Österreich so oft betonen, wie er wolle, es habe ja doch keinen Effekt, setzt all dem die Krone auf. Um die Wut und Enttäuschung derjenigen, die sich nach wie vor in der stetig härter werdenden Realität befinden, kümmern sich nun der neue SPÖ-Chef Andreas Babler und Herbert Kickl, der Chef der extrem Rechten FPÖ. Sie führt aktuell in den Umfragen haushoch, dennoch heizt Nehammers Video-Affäre das Duell Kickl - Babler an. Die beiden wählen jeweils unterschiedliche Strategien: Der Sozialdemokrat, der bisher sein Image als hemdsärmeliger, flammender Redner und Linker aus der Arbeiterschaft pflegte, trat am Donnerstag in betont staatsmännischem Stil und bestens gestyled vor die Journalisten. Babler will zeigen: Ich bin euer zukünftiger Kanzler – und zwar einer, der nicht nach unten tritt, sondern das Land zusammenhält. Der erfahrene Populist Kickl hingegen spricht genau das an, was viele über Nehammer und die ÖVP denken: „empathielos, menschenverachtend und abgehoben“ sei Nehammer, ließ Kickl per Aussendung wissen. In der aufgeheizten Stimmung zahlt Nehammers Video-Skandal eher auf das Konto des extrem rechten Polterers ein, und weniger auf das des jetzt als kanzlertauglich auftretenden Roten. Bizarr ist schließlich, dass der grüne Vizekanzler Werner Kogler auch jetzt Nehammer die Stange hält – Kogler nutzt auch wenige Monate vor der Wahl nicht die Gelegenheit, die Kanzlerpartei zu kritisieren und öffentlich auf dringend nötigen Eingriffe zu drängen. Die grüne Botschaft ändert sich auch jetzt nicht: Ohne uns wäre alles noch viel schlimmer.

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