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Kommentar: Nach dem Aiwanger-Skandal kippt etwas in Deutschland

Kommentar

Nach dem Aiwanger-Skandal kippt etwas in Deutschland

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    Adelsried, Adelsrieder Stadel-Bräu, Hubert Aiwanger
    Adelsried, Adelsrieder Stadel-Bräu, Hubert Aiwanger Foto: Andreas Lode

    Die Flugblattaffäre um den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger ist eine Zäsur für die politische Kultur in Deutschland. Inzwischen mag die öffentliche Empörung über das antisemitische Flugblatt, das man vor 35 Jahren bei dem Schüler Aiwanger in der Schultasche gefunden hat und das sein Bruder verfasst haben will, weitgehend verhallt sein. Was aber bleibt, ist ein unübersehbarer Knacks im politischen Fundament unseres Landes. 

    Vor zehn Jahren noch hätte sich der Chef der Freien Wähler nicht halten können. Auch wenn nichts dafür spricht, dass der erwachsene Hubert Aiwanger judenfeindlich eingestellt ist – der öffentliche Druck wäre zu groß gewesen, er hätte zurücktreten müssen. Denn „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Faschismus“ ist der ethische Grund, auf dem die Bundesrepublik gegründet ist. Schon der Ruch des Antisemitismus genügte, um politische Karrieren zu beenden. 

    Nazi-Vorwürfe hinter jeder Ecke sorgen für Dauererregtheit

    Das hat sich gewandelt. Dass sich Aiwanger trotz der Vorwürfe im Amt halten kann, ist auch auf die durch das Internet veränderte Medienlandschaft zurückzuführen. Politischer Streit wird dort viel rücksichtsloser und ungefiltert geführt. Der nächste Nazi-Vorwurf wartet hinter jeder Ecke. Über eine Rückkopplungsschleife landen die harten Attacken in den traditionellen Medien, es entsteht ein Zustand der Dauererregtheit. 

    Die Stolpersteine erinnern überall in Deutschland an die Juden, die die Nationalsozialisten ermordet haben.
    Die Stolpersteine erinnern überall in Deutschland an die Juden, die die Nationalsozialisten ermordet haben. Foto: Nicolas Armer, dpa (Symbolbild)

    Dabei ist die Fallhöhe extrem. Die Nationalsozialisten errichteten eine der grausamsten Diktaturen der Menschheitsgeschichte, brachen einen Weltkrieg vom Zaun und ließen Millionen Juden industriell ermorden. Jemanden in die Nähe der Nazis zu rücken, ist ein gewaltiger Vorwurf. Durch den inflationären Gebrauch hat er sich mittlerweile abgenutzt. 

    Mit dem obersten ethischen Gebot wurde Politik gemacht. Es war ein Machtmittel vor allem der Parteien des linken politischen Spektrums, das sie gegen die rechts stehenden einsetzten, um bestimmte Positionen völlig zu delegitimieren. Aiwanger profitierte in den zurückliegenden Tagen davon, dass die AfD seit Jahren regelmäßig mit dem Nazi-Vorwurf konfrontiert wird. Die Freien Wähler sind aber nicht die

    Dem „Nie wieder“ als Grundfeste geschadet

    Wenn also beinahe jeder mit dem Nazi-Vergleich belegt werden kann, dann ist jeder Nazi-verdächtig und damit – überspitzt gesagt – keiner mehr. Groteskerweise werden dadurch erstens die Verbrechen des NS-Regimes verharmlost und zweitens verhindert, dass echte Tabubrüche wirkungsvoll benannt werden können. Dem Gebot des „Nie wieder“ als Lot der politischen Kultur wird dadurch geschadet.

    Der Fall Aiwanger offenbart, dass dieser Schaden schon entstanden ist. Für das Selbstverständnis der Bundesrepublik ist das eine Zäsur. Denn statt öffentlich geächtet zu werden, sammeln sich die Wähler hinter dem Politiker. Die Freien Wähler steigen in den Umfragen. Die AfD darf sich berechtigte Hoffnungen machen, dass ihre Ächtung in der Öffentlichkeit an Wirkmacht verliert, obwohl es neonazistisches Denken in ihren Reihen gibt. Sie profitiert also auch von der Causa Aiwanger.

    Bei einem großen Teil der Ostdeutschen ist sie ohnehin längst salonfähig. In den Umfragen steht sie in Brandenburg, Sachsen und Thüringen auf dem ersten Rang mit jeweils über 30 Prozent Zustimmung. In einem parlamentarischen System ist es aber auf Dauer nicht durchhaltbar, die stärkste Partei von der Macht fernzuhalten. Der Knacks reicht tief.

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