Wer erinnert sich noch an den 26. November vergangenen Jahres? Vom Flughafen Memmingen musste die Bundesluftwaffe ein halbes Dutzend Schwerstkranke nach Norddeutschland ausfliegen, weil Bayerns Intensivstationen mit über tausend Corona-Patienten kurz vor dem Kollaps standen. Bayerns größtes Problem war seine niedrige Impfquote, andere Bundesländer mit besser geschützter Bevölkerung konnten dem Freistaat in seiner Not helfen.
Nach solchen Erfahrungen der Delta-Welle wurde parteiübergreifend der Ruf nach einer Impfpflicht laut. Keine fünf Monate später scheiterte die Forderung unter heftigstem Parteienzank im Bundestag. Wer auf die vielbemühte Plattitüde einer „Sternstunde“ des Parlaments gehofft hatte, erlebte das blanke Gegenteil: eine Blamage der Politik.
Regierungskoalition und Opposition bemühten sich mit allen Kräften, der anderen Seite ein Debakel zu bereiten: Kein Impfpflicht-Antrag erhielt eine Mehrheit. Die düsteren Novembertage sind in den Frühlingstagen nach Abebben der Omikron-Welle aus dem Gedächtnis verschwunden.
Scheitern der Impfpflicht: Lauterbach steht in der Corona-Politik vor einem Scherbenhaufen
Für Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist das Ergebnis eine herbe Niederlage, für die er zusammen mit dem Bundeskanzler eine besondere Verantwortung trägt. Beide verzichteten von vornherein darauf, eine Lösung innerhalb der Ampel zu suchen, und suchten stattdessen eine freie Abstimmung im Parlament. Lauterbachs Fehler war, dass er seinen Antrag einer Impfpflicht ab 18 nicht selbst mit seinem Namen verband und für eine rasche Mehrheit kämpfte. Er hätte es am ehesten im Kreuz gehabt, mit den Parteichefs von CDU und CSU einen Kompromiss auszuhandeln. Doch das hätte schneller gehen müssen als das quälend lange Verfahren, das sich länger als die nächste Pandemiewelle hinzog.
Die Ampel-Parteien griffen aus Parteitaktik zum Mittel einer Abstimmung ohne Fraktionszwang, die Union ließ den Plan aus Parteitaktik scheitern. Die Ampel wollte sich selbst die Qual und Zerreißprobe ersparen, in dieser Frage einen gemeinsamen Kompromiss zu erringen, den die gesamte Regierungskoalition mittragen kann. SPD und Grüne nahmen dabei Rücksicht auf die in dieser Frage völlig gespaltene FDP.
Auch Ampel-Abgeordnete ließen Kompromiss bei Impfpflicht scheitern
Die Union nutzte diese Steilvorlage dankbar, um auch in der Corona-Politik die Risse in der Koalition sichtbar zu machen. Oppositionschef Friedrich Merz weigerte sich, die Abstimmung zur Gewissensentscheidung zu machen. Ein solches Verhalten ist für eine entschlossene Opposition politisch völlig legitim. Verantwortungslos wäre dieses Verhalten gewesen, wenn die Union sich komplett verweigert hätte. CDU und CSU präsentierten deshalb einen Kompromissvorschlag, um wenigstens die Impfpflicht vorzubereiten. Doch die Ampel-Abgeordneten ließen ihn durchfallen, so wie die Union den Gesetzesentwurf aus den Reihen von SPD, Grünen und FDP scheitern ließ.
Inhaltlich hätte der Unions-Vorschlag, über eine verpflichtende Impfung erst nach dem Sommer zu entscheiden, keinerlei Verbesserung für den Corona-Herbst gebracht, weil, bis die Impfdosen bei den Betroffenen Wirkung entfalten, zu viel wertvolle Zeit vergeht. Mit dem Plan, die Impfpflicht einfach zu vertagen, drückte sich die ebenfalls bei dem Thema zerrissene Union vor einer unangenehmen Entscheidung. Politisch ist das auch für die Opposition keine Sternstunde.
Was das Impfdebakel für die Pandemie bedeutet
Was bedeutet das Impfdebakel für die Pandemie? Die Erwartung, die Impfpflicht würde als Vorsorgemaßnahme alle Probleme im Herbst lösen, ist naiv wie einst die Hoffnung, die Handy-Warn-App könnte die Pandemie eindämmen. Auch die Hoffnung, es würde für den Weg zur Herdenimmunität reichen, wenn sich gut zwei Drittel der Bundesbürger impfen ließen, zerstob, denn das Virus mutierte ansteckender, oft auch gefährlicher.
Auch eine Impfpflicht hätte erklärte Gegner einer Impfung nicht bekehrt. Vermutlich hätte sie aber die Impfquote ein paar sehr wichtige Prozentpunkte erhöht und vielleicht vielen hundert über 60-Jährigen das Leben retten können. Und sie wäre ein wichtiges Signal an die zigtausenden Pflegekräfte im Land gewesen, dass die Gesellschaft sie mit ihren Extrembelastungen nicht im Stich lassen will.
Nach Impfpflicht-Entscheidung: Es regiert nicht die Politik, sondern die Hoffnung
Stattdessen geht die Politik nun blank in den nächsten Corona-Herbst. Es regiert nicht die Politik, sondern die Hoffnung ist, dass nicht Schlimmeres als die jetzige Virusvariante kommt und dass die millionenfachen Omikron-Infektionen das Immunsystem der Bevölkerung für den Kampf gegen die nächste Welle stärkt. Doch das Coronavirus hat die Politik seit Beginn der Pandemie bisher jeden Herbst böse überrascht. Im Winter 2020 hatte Deutschland trotz aller Vorbereitungen die höchsten Todeszahlen zu beklagen, im Winter 2021 stand das Gesundheitssystem mit hunderttausenden abgesagten Operationen und vielen Verzögerungen in der Notfallversorgung so nah wie noch nie am Kollaps. Im Winter 2022 entscheidet nicht die Politik, sondern das Virus, was als Nächstes kommt. Diese Lehre hat der Bundestag bis heute nicht aus der Pandemie gezogen.