Es dauerte eine Weile, bis sich führende Politiker in der EU davon erholt hatten, dass der sehnliche Wunsch, die Türkinnen und Türken würden sich Erdoğans per Stimmzettel entledigen, bei den Wahlen im Mai nicht in Erfüllung ging. Die Regierungen der meisten EU-Mitgliedsstaaten reagierten auf diesen Tiefschlag mit einer Mischung aus Enttäuschung und der resignativen Gewissheit, nun weitere fünf lange Jahre mit dem unberechenbaren Demokratieverächter konfrontiert zu sein.
Die Fahrt mit Recep Tayyip Erdoğan auf der Achterbahn geht also weiter. Allerdings berechnet der Präsident deren Spitzkehren und Loopings weit genauer, als es von außen scheint. Das Problem für den Westen ist, dass diese Berechnungen nur schwer nachzuvollziehen sind, dass also EU und Nato von jeder engen Kurve aufs Neue überrascht werden.
So war es beim Nato-Gipfel in Vilnius. Erdoğan schockte die Bündnispartner mit der unverhohlenen Erpressung, die Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens von einer Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche abhängig zu machen, um diese Zumutung kurz darauf zu kassieren. Schmierenstücke dieser Art sind nicht nur ärgerlich, sie beschädigen das Bild der Allianz.
Die Türkei war schon immer geostrategisch äußerst relevant für Nato und EU, seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ihr Gewicht nochmals spürbar gewachsen. Dass die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock vor gut einer Woche bei einem EU-Treffen in Brüssel dafür geworben hat, die Beziehungen mit der Türkei zu überdenken und den Versuch einer Annäherung zu starten, ist ein richtiger Ansatz, zeigt aber das ganze Dilemma ihrer „wertegeleiteten Außenpolitik“ auf. Wie geht man mit einem Partner um, der sich um westliche Werte kaum schert, von dem man aber auf gleich mehreren Feldern zu einem nicht unwesentlichen Grad abhängig ist?
Die EU braucht die Türkei, aber die Türkei braucht auch die EU
Die Antwort lautet: mit weniger Naivität und mehr Pragmatismus. Der Ausgangspunkt ist klar. Die EU braucht die Türkei, aber die Türkei braucht auch die EU.
Während Ankara das dysfunktionale Migrationssystem Brüssels vor dem kompletten Zusammenbruch bewahrt, ist die Türkei, die sich in einer tiefen ökonomischen Krise befindet, auf wirtschaftliche Kooperation mit der EU angewiesen. Der Westen profitiert davon, dass die militärisch starke Regionalmacht die Expansionsgelüste Russlands im Zaum hält – auf der anderen Seite wiederum verdankt Ankara seine starke Position an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien nicht zuletzt seiner Nato-Mitgliedschaft und der daraus resultierenden militärischen Beistandspflicht.
Erdoğan ist völlig klar, dass ein EU-Beitritt nicht in Reichweite ist
Erdoğan weiß natürlich, dass ernsthafte EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei in absehbarer Zeit nicht realistisch sind – während seiner Amtszeit schon gar nicht. Um das zu ändern, müsste der Präsident sein Land grundlegend reformieren. Schließlich ist die Türkei unter seiner Ägide zu einem autokratischen System verkommen, in dem Menschenrechte und Demokratie stetig an Bedeutung verloren haben. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der 69-Jährige umsteuern will.
Erdoğan hat sich darauf verlegt, zu drohen, sich querzustellen, dann wieder einzulenken, um dafür Gegenleistungen einzustreichen. Das ist die schwierige Basis für eine punktuelle Zusammenarbeit in handels- und sicherheitspolitischen Fragen. Aber allemal besser, als die Türkei sich selber zu überlassen.