„Mein Frankreich tut mir weh.“ Den Satz von Kylian Mbappé müssen alle nachempfinden, die das Land kennen und lieben, die manchmal an ihm verzweifeln und nun erschüttert das Chaos in den Städten und Vororten mitansehen müssen. Geschrieben hat ihn der französische Star-Fußballer, aufgewachsen in der Banlieue Bondy als Sohn einer Algerierin und eines Kameruners, am Tag, an dem ein Polizist den 17-jährigen Nahel bei einer Verkehrskontrolle erschossen hat. Seitdem rollt eine Welle der Gewalt über das Land. In vielen Fällen geht sie von Minderjährigen aus, die vor nichts Halt machen. Es herrscht eine Art Ausnahmezustand, ohne dass er bislang ausgerufen wurde.
In Frankreich zeigen sich tiefe Gräben zwischen Stadt und Land
Gerade erst hatte sich die Lage in Frankreich beruhigt, nach monatelangen Protesten gegen die umstrittene Rentenreform. Vor wenigen Jahren gingen die „Gelbwesten“ jeden Samstag auf die Straße, um nicht immer gewaltfrei ihren immensen Unmut auszudrücken. Schon diese Bewegung legte viele Probleme der französischen Gesellschaft offen, etwa den Graben zwischen den Metropolen und den ländlichen Regionen, das Gefühl des Abgehängtseins von Teilen der Bevölkerung, den generellen Vertrauensverlust. Auch in den Urnen zeigt sich diese Entwicklung mit einem unaufhaltsamen Aufstieg der Rechtsextremen, die sich diese Gefühle zunutze machen, ohne glaubwürdige Alternativen anzubieten. Die Zahl der Nichtwähler ist zugleich so hoch wie nie.
Diese neuerliche Krise erscheint noch beängstigender und auswegloser als die bisherigen. Die Gründe für die jetzige Eskalation sind komplex und vielfältig. Sie reichen von der französischen Kolonialgeschichte über die Arbeitsmigration ab den 1960er Jahren, für die funktionale Schlafstädte an den Rändern der Städte geschaffen wurden, die mit der Zeit verfielen und zu Orten der Ausgrenzung wurden, bis zum Mangel an Erziehung und an Perspektiven. Ein Thema ist auch die übermäßige Polizeigewalt gerade in den sozialen Brennpunkten, die oft von Drogenhandel und Kriminalität geprägt sind.
Am wichtigsten sind in Frankreich Ruhe und Sicherheit
Für diese Probleme, die seit Jahrzehnten schwelen, ist nicht nur die aktuelle Regierung verantwortlich. Aber sie muss Antworten finden, über eine rein repressive Reaktion hinaus. Auch wenn es nun zuerst darauf ankommt, wieder Ruhe und Sicherheit herzustellen. Undenkbar erschien, dass sich Präsident Emmanuel Macron bei einem Staatsbesuch in Deutschland in enthusiastischen Tönen an die europäische Jugend wendet, während die Jugend zu Hause auf die Barrikaden geht.
Nun muss Macron zeigen, dass seine Politik nicht nur aus Kommunikation und Augenwischerei besteht, sondern echte Veränderungen erzwingt. Etwa bei der Führung der Polizei, die zugleich selbst massiv unter Druck ist. Das „Wir gegen sie“-Gefühl der Aufständischen richtet sich gegen sie als Vertreter eines Staates, von dem sich viele missachtet fühlen. Das republikanische Versprechen der Gleichheit, das seit der Französischen Revolution auf jedem Schulgebäude prangt, wird nicht allen gegenüber eingehalten. Ein Mohammed oder eine Fatima aus Clichy-sous-Bois bekommen nicht denselben Respekt, dieselben Bildungs- und beruflichen Chancen wie ein Nicolas oder eine Marie aus dem Nobel-Vorort Neuilly-sur-Seine. Macron hat bereits gute Initiativen ergriffen wie die Halbierung der Schülerzahlen der Klassen in sozialen Brennpunkten. Doch erklärte er seit seinem Amtsantritt vor sechs Jahren die Jugend zu seiner Priorität, so trat diese bald wieder hinter andere Prioritäten zurück. Das kann sich Frankreich nicht mehr leisten. Die Veränderungen, die zur Befriedung der Gesellschaft notwendig sind, werden viele Jahre in Anspruch nehmen. Beginnen müssen sie jetzt.