Geschichte wiederholt sich nicht, hat uns Karl Marx gelehrt. Journalisten hingegen wiederholen sich oft. Am 4. Juli letzten Jahres, zum amerikanischen Unabhängigkeitstag, haben wir einen Abschiedsbrief an die USA verfasst. Damals sah vieles noch danach aus, als werde Donald Trump wiedergewählt, die Verzweiflung war gewaltig. Wir schrieben, wie das gehen solle, einen Abschiedsbrief an jemanden verfassen, von dem man gar nicht wirklich Abschied nehmen will? Weil da immer noch so viele Gefühle sind, Zuneigung klar, aber Liebe auch, fast schon Leidenschaft, das ganz große Kino eben. Weil der Beziehungsstatus so verflixt kompliziert ist, weil man irgendwie weiß, es geht so nicht mehr weiter, aber wie soll es ohne einander gehen?
Wir haben Amerika viel zu verdanken
Nun ist der allergrößte Beziehungs-GAU nicht eingetreten, um 12 Uhr wirst Du vereidigt, lieber Joe. Also geht bei manchen von uns das Kopfkino schon wieder an, rund um unseren ganz eigenen amerikanischen Traum. Dass der Mensch aufrecht vor Königsthronen stehen kann, als Subjekt der Geschichte und nicht nur als Objekt, das haben wir auch Deinem Amerika zu verdanken, und diesen Worten in Deiner Unabhängigkeitserklärung, die so klein daherkommen und doch so Großes aussagen: Alle Menschen sind gleich geschaffen, klar, aber wie es dann weitergeht: the pursuit of happiness, das Streben nach Glück. Wow!
Auf einmal ging es also im Menschenleben nicht mehr einfach darum, sich mühsam durch den Tag zu schleppen: nein, am Ende geht es um happiness, um das Recht aufs Glücklichsein. Was mit Spaßgesellschaft völlig falsch übersetzt wäre. Das ist die DNA der Vereinigten Staaten von Amerika, lieber Joe, Deiner USA.
Du weißt natürlich, was Deine großen Vorgänger in ihren Reden alles gesagt haben. „Mitgefühl für alle“ versprach Abraham Lincoln und John F. Kennedy stand blutjung und ohne Mantel in der Kälte und gelobte, Amerika werde für die Freiheit jede Last schultern. Und dann kam ein Clown namens Trump mit seinem Gefasele vom „amerikanischen Gemetzel“, das er seinem Land vor allem selber antat...
Du musst erst einmal die Demokratie heilen
Auch wegen Trump wirst Du vieles nicht sagen können, lieber Joe. Amerikas aktuelle Schwäche ist zugleich Deine Schwäche. Du musst erst einmal die Demokratie daheim gesundstreicheln, statt sie exportieren zu können. Die Nicht-Demokraten in Moskau, Peking oder Pjöngjang, die lachen gerade über Dich, sie lachten über den Chaos-Mob im Kongress, auch darüber dass Ihr so eine Corona-Bananenrepublik seid. Und: dass rund 74 Millionen Amerikaner trotz allem Trump gewählt haben.
Aber, ach, Joe. Du kennst das ja, Dein Land war immer launisch, unberechenbar, auch grausam. Als es seine Unabhängigkeitserklärung verfasst hast, war natürlich keine Frau dabei. Es hat einen Bürgerkrieg geführt, und danach gab es zwar offiziell keine Sklaverei mehr, aber den Rassismus natürlich noch, bis heute. Es hat sich in Kriegen verloren, in Terrorwahn, in Wall-Street-Exzessen...
Amerika hat sich oft verloren - und neu gefunden
Doch Amerika kam immer wieder, wieder ein Filmgeschenk, eine wegweisende Erfindung, ein Ohrwurm...Und plötzlich war es Morning Again in America, und dann standen Amerikaner so strahlend da wie jene GI’s, die gar uns Deutsche wieder aufnahmen in der Weltgemeinschaft. Alles, was falsch ist an Amerika, kann geheilt werden durch das, was gut ist an Amerika, hat Bill Clinton gesagt. Wir wollen dieses Strahlen wieder sehen. Diesen Optimismus, den wir oft verspotten, aber heimlich lieben. Klar können wir Abschiedsbriefe an Amerika schreiben. Aber abschicken können wir die nie. Also: Lass uns ein bisschen träumen, Joe.
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