Voll auf dem falschen Fuß erwischt. Sichtlich irritiert waren die Europäer, als US-Präsident Joe Biden am Mittwoch den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September erklärte, ohne ihn an Bedingungen für die Taliban zu knüpfen. Entsprechend fiel die erste Reaktion von Nato-Chef Jens Stoltenberg oder dem deutschen Außenminister Heiko Maas aus: dröhnendes Schweigen. Dann die Versicherung an Kabul, man werde das Land auch in Zukunft nicht alleine lassen. Was man so sagt, wenn man aufkommende Nervosität nicht noch verstärken will.
Allen dürfte klar sein, dass Bidens Vorstoß eine gefährliche Wette ist. Die drohende Rückkehr der Taliban löst gerade unter Frauen und jungen Afghanen, die Geschmack an neuen Spielräumen und Rechten gefunden haben, blanke Verzweiflung oder Panik aus.
Bekannt ist, dass Biden den Militäreinsatz schon seit Jahren mit wachsender Skepsis verfolgt. In dieser Frage ist er nicht weit weg von seinem Vorgänger Donald Trump. Eine bittere Gleichung dürfte ihn bestärkt haben, Fakten zu schaffen: Zwei Jahrzehnte Krieg, 2400 gefallene US-Soldaten bei Kosten von rund 2000 Milliarden Dollar ergeben: Der Konflikt in Afghanistan bleibt weiter ungelöst. .
US-Präsident Joe Biden hat andere Prioritäten
Der Präsident setzt andere Prioritäten. Mit billionenschweren Investitionen will er Corona besiegen, die marode Infrastruktur abgehängter Regionen in den USA ins 21. Jahrhundert katapultieren, Prosperität und Arbeitsplätze schaffen. So hofft er, die Spaltung des Landes zu mildern. Der teure und in der Bevölkerung extrem unpopuläre Einsatz am Hindukusch stört da nur. Außenpolitisch liegt Bidens Fokus darauf, China und Russland in die Schranken zu weisen – die eine Macht aufstrebend und aggressiv, die andere aggressiv, weil sie eben nicht vorankommt.
Zudem argumentiert Präsident Biden, dass es gelungen sei, zu verhindern, dass die USA und die Nato-Länder von Afghanistan aus durch Terroristen bedroht werden – genau das sei Ziel der Mission gewesen.
Den Afghanen wurde nach dem Sieg gegen die Taliban (zu) viel versprochen
Das aber ist nicht aufrichtig. Denn nach dem Sieg der Allianz und dem Sturz der Taliban-Regierung im Herbst 2001 wurde der Bevölkerung (zu) viel versprochen: Wir befreien euch endgültig von den Steinzeit-Fundamentalisten, wir bringen westliche Werte, nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung und Stabilität. Davon ist nur wenig übrig geblieben. Wieder einmal zeigt sich, dass der Export von Demokratie ein Kunststück ist, das nur äußerst selten gelingt.
Dass das Land 20 Jahre nach der Intervention des Westens derart in Gewalt, Kriminalität und Korruption versinken würde, hatten allerdings auch notorische Pessimisten nicht erwartet. Einen Anteil an diesem Desaster haben die afghanischen Eliten, die kläglich versagten, als es darum ging, die gigantische finanzielle Unterstützung effektiv zu nutzen. Viele Politiker waren weit kreativer darin, Hilfsgelder in die eigene Tasche umzuleiten.
Anteil an dem Desaster haben auch die afghanischen Eliten
Natürlich wurde auch – nicht zuletzt durch Hilfsprojekte nichtstaatlicher Organisationen – einiges erreicht: Mehr Rechte für Frauen und Mädchen, bessere Bildung, ein Zuwachs an Meinungsfreiheit. Für Teile der Bevölkerung verbesserte sich auch die wirtschaftliche Lage sowie die Gesundheitsversorgung. Viele Afghanen haben also etwas zu verlieren. Ihnen und der afghanischen Regierung versichert der Westen jetzt, dass Finanzhilfen und Waffenlieferungen auch nach dem Abzug nicht eingestellt werden.
Doch politische und wirtschaftliche Unterstützung zu organisieren dürfte schwierig werden, wenn eines Tages ein Taliban-Politiker den Hörer im Präsidentenpalast abnehmen sollte.
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