Man fragt sich, was für den russischen Präsidenten schlimmer war: der Umstand, dass der Westen nicht auf seine überspannten Forderungen eingehen wollte oder dass US-Präsident Joe Biden und europäische Spitzenpolitiker ihn nicht mit Gesprächsangeboten und diplomatischen Initiativen verschonten. In einem veritablen rhetorischen Amoklauf entlud sich bei Wladimir Putin am Montagabend die Spannung. Geradezu physisch spürbar war der unbedingte Wille des Autokraten, Fakten zu schaffen. Mit der Folge, dass die Gefahr weiter gewachsen ist, dass diesem Ausbruch jetzt ein unverantwortlicher militärischer Schlag folgen könnte.
Welche Szenarien sind nun denkbar? Besser gesagt, welche Abstufungen einer Strategie des Kremls, für den Erpressung und der Einsatz militärischer Gewalt gegen souveräne Staaten längst zu einer legitimen Fortführung der Politik mit anderen Mitteln geworden ist.
Will Putin noch mehr? Ein grenzenloser Krieg zwischen Russland und Ukraine würde Realität
Jetzt sollen die bereits in der Ostukraine aktiven irregulären russischen Einheiten von regulären Truppen Unterstützung erhalten. Formal wurde der Weg für den Einsatz der Moskauer „Friedensarmee“ durch die Anerkennung der völkerrechtlich illegitimen Volksrepubliken Luhansk und Donezk als eigenständig geebnet. Die Frage ist, ob russische Streitkräfte die Bezirke Luhansk und Donezk später vollständig erobern werden. Das ist der erklärte Wunsch der Separatisten und würde eine direkte Konfrontation mit den ukrainischen Streitkräften unausweichlich machen. Ein grenzenloser Krieg Moskaus gegen die Ukraine wäre endgültig Realität, wenn Putin noch mehr will und das Schlachtfeld über den Osten des Landes hinaus ausweiten würde.
Die Ukraine könnte also in einen Kampf verwickelt werden, der ihre Existenz gefährdet. Militärisch ist Kiew weitgehend auf sich alleine gestellt. Die Handlungsoptionen der Regierung von Wolodymyr Selenskyj sind überschaubar. Ruhig bleiben, sich nicht provozieren lassen und darauf hoffen, dass Moskau die irrwitzigen Kosten eines umfassenden Krieges scheut. Dabei geht es nicht nur um die finanziellen und politischen Folgen, sondern auch um den zu erwartenden Blutzoll.
Umso wichtiger ist jetzt eine konsequente und harte Reaktion des Westens. Einer diplomatischen Sonderrolle Europas ist nach dem Ende des Minsker Abkommens der Boden entzogen. Gemeinsame, gut abgestimmte Sanktionen gegen ganze russische Wirtschaftszweige oder den Bankensektor, aber auch Ausfuhrverbote nach Russland für Hightech-Produkte würden das Land – anders als immer wieder behauptet – sehr hart treffen.
Schon aus taktischen Gründen sollte der Westen nicht alle Optionen auf den Tisch legen
Schon aus taktischen Gründen sollte der Westen nicht schon jetzt alle Optionen auf den Tisch legen, aber als Reaktion auf denkbare weitere Eskalationsschritte Russlands gründlich vorbereiten. Da ist es ein richtiger Schritt, die Genehmigung für Nord Stream 2 auf Eis zu legen.
Es ist überfällig, dass Teile der deutschen Politik ihre naive Sicht auf Putin und den Kreml revidieren. Der russische Präsident kämpft mit allen Mitteln für die Wiedererlangung sowjetischer Machtpositionen. Die Nato sieht er als Gegner, weil sie diesen Plänen im Wege steht, nicht weil das Bündnis Russland bedroht. Im Gegenteil, die Allianz ist eine Rückversicherung für Staaten, die von Provokationen und Einschüchterungsversuchen Moskaus betroffen sind.
Wer weiß, ob die baltischen Staaten ohne ihre Nato- und EU-Zugehörigkeit in der Lage gewesen wären, ihre Freiheit zu bewahren. Sogar in Schweden und Finnland wird ein möglicher Nato-Beitritt diskutiert.
Verhandlungen mit Russland schließt das alles nicht aus. Aber die Zeit für Beschwichtigungspolitik ist vorbei – wahrscheinlich für viele Jahre.
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