Der indische Premierminister Narendra Modi ist gerade einer der gefragtesten Politiker weltweit. Wenn er in dieser Woche Europa bereist, kehren sich die Verhältnisse um. Die reichen Europäer brauchen ihn, den Regierungschef eines riesigen, aber noch immer in weiten Teilen armen und unterentwickelten Landes. 300 Millionen Inder müssen um das tägliche Überleben kämpfen, weil sie so wenig haben.
Modi ist sich seiner neuen Bedeutung bewusst. „Mein Besuch in Europa fällt in eine Zeit, in der der Region viele Herausforderungen und Entscheidungen bevorstehen“, erklärte er. Mit Herausforderungen meint er den Krieg in der Ukraine.
Für die Inder ist der Krieg in der Ukraine weit weg
Auch hier liegen die Dinge umgekehrt zur gewohnten Ordnung des Westens. Der brutale Angriff auf die Ukraine erschüttert die Europäer, weil er am Rande des eigenen Kontinents geschieht. Die Kriege gegen Afghanistan und den Irak waren für sie weit weg, genau wie es das Leiden und die Zerstörung in der Ukraine in diesen Tagen für die Inder sind. Ihr Premierminister könnte Entscheidendes tun, um den Opfern von Wladimir Putins Überfall und ihren verbündeten Ländern zu helfen.
Modi müsste auf eine günstige Gelegenheit verzichten. Denn durch die Abkehr von Gas, Öl und Kohle aus Russland ist viel Energie auf dem Markt. Indien hat einen gewaltigen Bedarf. Greift es zu, fließen Putin weiter hohe Einnahmen zu, während Europa sich anderswo teuer eindecken muss und unter stetigem Inflationsdruck leidet. Doch was kann der Bundeskanzler Modi und seinen nach Berlin kommenden Ministern bieten? Es ist nicht gerade viel, um es ehrlich zu sagen.
Zwei Joker immerhin hat Scholz. Zum einen ist es natürlich Geld für Entwicklungsprojekte auf dem Subkontinent, auf dem längst nicht alle Dörfer an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen sind. Hierfür müssten die Summen aber erheblich gesteigert werden. Zweitens natürlich Wissen und Technik für die Energiewende. Indien wird gerade von einer Hitzewelle geplagt, die jedem klarmacht, wie heftig der Klimawandel schon heute ist.
Russland und Indien haben gewachsene Beziehungen
Ob das reicht, Modi aus dem Bündnis mit Russland herauszulösen, ist fraglich. Beide Länder pflegen eine Jahrzehnte währende Partnerschaft. Die indische Armee ist maßgeblich mit russischen Waffen ausgestattet. Die indischen Unternehmen warten nur darauf, in Russland den Platz einzunehmen, der sich durch den Weggang der westlichen Konkurrenz ergeben hat. Und die Inder wissen, dass die deutschen und europäischen Konzerne verstärkt zu ihnen kommen werden, wenn China nicht mehr als der größte Wachstumsmarkt begriffen wird, sondern als Diktatur mit Arbeitslagern.
Das Verhältnis zu Indien zeigt beispielhaft, was die von Scholz ausgerufene Zeitenwende bedeutet. Energie wird kostspieliger, die Europäer werden sich anderen Ländern zuwenden, die um ihren neuen Wert wissen und mehr verlangen können. Das heißt auch, dass diese Staaten klug versuchen werden, von allen Seiten zu profitieren - günstige Energie aus Russland und westliche Hightech und Konsumgüter. Der Blick auf die Weltkarte offenbart, dass Putin viel weniger isoliert ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. China und Indien tragen die Sanktionen nicht mit, genauso wenig wie die afrikanischen Länder oder Brasilien und Argentinien.
In den Ohren dieser Länder klingt auch die wiedererstarkte Liebe zur Unverletzlichkeit von Grenzen hohl, wenn sie von den früheren Kolonialmächten laut betont wird. Der Bundeskanzler ist klug genug, um all das zu wissen. Er will und muss dennoch versuchen, neue Allianzen zu schmieden, wissend, dass es sich für die Partner bei dem Krieg in der Ukraine um ein fernes Gemetzel handelt. Putins Angriff hat die Geschäftsgrundlagen der internationalen Beziehungen geändert.
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