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Kommentar: Ich, einfach unverbesserlich? Weihnachten sollte Fest des Miteinanders sein

Kommentar

Ich, einfach unverbesserlich? Weihnachten sollte Fest des Miteinanders sein

Daniel Wirsching
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    Protest gegen angebliche "Zwangsimpfung für Kinder": Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen viele, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen.
    Protest gegen angebliche "Zwangsimpfung für Kinder": Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen viele, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen. Foto: Fabian Sommer, dpa (Archivbild)

    Das Gebet der Stunde scheint den Titel „Vatermein“ zu haben: Vater mein, geheiligt sei mein Name. Mein Reich komme. Mein Wille geschehe, hier auf Erden. Mein tägliches Brot gib mir heute. Und vergib mir meine Schuld und erlöse mich von dem Bösen. Denn mein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. 

    Nur das Diesseits zählt und dort nur das Ich. Das ist der Eindruck, der sich einstellt, wenn man ein wenig die „Debatten“ in sozialen Medien, Kurzbotschaften-Diensten und Internet-Kommentarspalten verfolgt. Der Eindruck täuscht, die digitalen Stammtische sind lediglich ein kleiner, wenn auch wirkmächtiger Teil unserer Realität.

    Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen viele, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen, solange sie ihrem Ich dient

    Tatsächlich gab und gibt es in unserer Gesellschaft eine riesige, eine überwältigende Hilfsbereitschaft, die sich bei weitem nicht allein zu Weihnachten zeigt. Sie wurde in den vergangenen Jahren zum Beispiel offenbar in der Corona-Pandemie, ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs zu sehen und jetzt während einer Energie- und Teuerungskrise. Ungezählte Menschen helfen, so gut es ihnen möglich ist. Sie helfen Geflüchteten aus der Ukraine, sie helfen bedürftigen Menschen in Deutschland, sie sind für andere selbstlos da. 

    Und doch halten uns die „Debatten“ – in Wahrheit ist es allzu oft ein Austausch von Gehässigkeiten – in sozialen Medien, Kurzbotschaften-Diensten und Internet-Kommentarspalten den Spiegel vor und lassen tief blicken. Zu beobachten ist das Versagen von Kommunikation, im Beharren auf die jeweils eigene, absolut gesetzte Meinung. Ja, Meinungen haben längst Fakten ersetzt in diesen Auseinandersetzungen, in denen man nie Sätze hört wie: „Das weiß ich nicht.“ Oder: „Dazu habe ich keine Meinung.“ Oder: „Damit muss ich mich erst näher beschäftigen.“ Stattdessen dröhnt viel „ich, ich, ich“ und „Ich habe Recht“ aus Sätzen, Wörtern, Bildern, Emojis. Derart laut, dass es schmerzt.

    Protest gegen angebliche "Zwangsimpfung für Kinder": Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen viele, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen.
    Protest gegen angebliche "Zwangsimpfung für Kinder": Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen viele, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen. Foto: Fabian Sommer, dpa (Archivbild)

    Eines der viel diskutierten Bücher der vergangenen Monate wurde „Freiheit beginnt beim Ich“ genannt. Es ist ein ärgerliches, weil intellektuell dürftiges Büchlein. Der dritte Satz der Einleitung heißt (und in dem Duktus geht es immer weiter): „Einem freien Menschen kann es egal sein, was andere von ihm denken; mir ist es egal.“ 

    Wer so denkt und schreibt, will provozieren, polarisieren und spalten. Daran empfinden viele offenkundig Freude. Im Namen der (Meinungs-)Freiheit meinen sie, sich jedwede Freiheit nehmen zu dürfen, solange sie ihrem Ich dient. Ich – einfach unverbesserlich. 

    Die (Kurz-)Botschaft des Weihnachtsfestes lautet: „Zuwendung und Miteinander“

    Denn mein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit? Laut dem jüngst veröffentlichten „Religionsmonitor 2023“ der Bertelsmann Stiftung beten 43 Prozent der Befragten übrigens nie. Und doch sei, etwa zu Beginn der Pandemie, die Google-Suche nach Gebeten um 50 Prozent gestiegen, wie man lesen kann. 

    Man muss nicht gläubig, nicht religiös, nicht Kirchenmitglied oder theologisch gebildet sein, um im Vaterunser – einem der bekanntesten und schönsten Gebete der Christen – einen Wegweiser auch für unseren Umgang miteinander finden zu können. Unter anderem, weil es auf ein großes „uns“ verweist. Darauf, dass es nicht um das Um-sich-selbst-Kreisen und die rücksichtslose Durchsetzung des eigenen Willens gehen kann. Darauf, dass es mehr gibt, „im Himmel so auf Erden“. Die (Kurz-)Botschaft des Weihnachtsfestes lautet: „Zuwendung und Miteinander“. Wer mag, sollte an Heiligabend 2022 dafür beten, dass es in unserer Gesellschaft von beidem wieder mehr gibt.

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