Bayern geht unter. Viele Menschen sind mit ihren Kräften am Ende – und mit ihren Nerven. Das verheerende Hochwasser lässt manche verzweifeln. Doch inmitten dieser Katastrophe, inmitten der Ängste, der Gefahr, des Leids tut sich auch Erstaunliches. Auf der Straße wünschen sich wildfremde Leute gegenseitig alles Gute. Selbst in sozialen Netzwerken, wo sonst so oft Hass und Häme den Ton angeben, herrschen kollektive Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Das Land rückt zusammen, stellt das vergiftete Geschrei für den Moment auf stumm. Keiner lässt den anderen im Regen stehen.
Ist die Gesellschaft vielleicht gar nicht so gespalten?
Es sind die kleinen Dinge, die unerwarteten Gesten, die in diesen Tagen ein bisschen Hoffnung darauf zurückgeben, dass unsere Gesellschaft in Wahrheit eben doch nicht so zerrüttet, so unversöhnlich, so gespalten ist, wie es manchmal erscheint. Der Supermarkt oder die Dorfwirtschaft, die kostenlos Brotzeit für alle Helferinnen und Helfer ausgeben. Nachbarn, die sich gegenseitig beim Auspumpen oder Räumen der Häuser helfen. Freunde, die einen trockenen Platz zum Schlafen haben. Der junge Mann im Bauhof, der auch für die ältere Dame von Gegenüber noch ein paar zusätzliche Sandsäcke in den Kofferraum packt. Tausende Freiwillige, die darum kämpfen, dass nicht alle Dämme brechen.
Landwirte, die mit ihren Traktoren aushelfen. Längst weggezogene Kinder, die nach Hause kommen, um ihre Eltern zu unterstützen. All die Einsatzkräfte, die trotz völliger Erschöpfung die Nerven behalten. Feuerwehrleute, die auch im Hundertsten überfluteten Keller noch ein freundliches Wort für die aufgeregten Bewohner übrig haben, deren Nerven blank liegen. Politiker, die sich wenigstens ein paar Tage mal nicht gegenseitig in die Parade fahren, um Profit daraus zu schlagen. Behörden, die ihren Job machen.
Dieses Land, das zuletzt gefühlt überhaupt nichts mehr auf die Reihe bekommen hat, funktioniert eben doch noch ganz gut. Und mindestens genauso wichtig: Der Mensch bleibt Mensch, wenn es drauf ankommt. Wenn vermeintliche Selbstverständlichkeiten nicht mehr selbstverständlich sind.
Erst zusammenhalten, dann Fehler aufarbeiten
Ja, auch in diesen dramatischen Tagen passieren Fehler. Und ja: Die Versäumnisse in Sachen Hochwasserschutz aus der Vergangenheit müssen klar benannt werden. Dem großen Versprechen von Ministerpräsident Markus Söder, niemand werde in seiner Not alleingelassen, müssen belastbare Taten folgen. Aus der Erkenntnis, dass Katastrophen wie diese in Zeiten des Klimawandels jeden jederzeit treffen können, müssen echte, nachhaltige Konsequenzen gezogen werden. Aber jetzt, in diesem Moment, da so vielen Menschen das Wasser im wahrsten Sinne noch bis zum Hals steht, geht es erst einmal darum, durch- und zusammenzuhalten. Und das tun die Deutschen. Auch aus anderen Teilen der Republik kommen ja Hilfskräfte nach Bayern und Baden-Württemberg, um die erschöpften Kolleginnen und Kollegen vor Ort abzulösen.
Immer wieder ist mit Blick auf die Fußball-Europameisterschaft, die in wenigen Tagen in München beginnt, die Rede vom legendären Sommermärchen 2006. Damals hatte das Land eine nie gekannte Stimmung, ein schwarz-rot-goldenes Gemeinschaftsgefühl erfasst. Und fast immer, wenn wir darüber reden, schwingt ein bisschen Wehmut mit, weil uns dieses Gefühl mit der Zeit irgendwie abhanden gekommen scheint. Doch womöglich ist es nur zugeschüttet worden, von all den Krisen der vergangenen Jahre. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um es wieder auszugraben.