Selbst im Berliner Politikbetrieb staunten viele, als der bestens gelaunte hessische CDU-Ministerpräsident Boris Rhein seinem langjährigen Regierungspartner zugunsten der SPD den Laufpass gab: Die Grünen galten nach den bisherigen politischen Gesetzen in der Bundeshauptstadt als klarer Favorit bei den Sondierungsverhandlungen über die künftige Regierung. Schließlich gewann die seit fast zehn Jahren in Hessen regierende schwarz-grüne Koalition gemeinsam an Stimmen hinzu.
Doch die Politik funktioniert weder in Hessen noch im Bund nach den alten Gewissheiten. Lange galt, dass Große Koalitionen am Ende nur die radikalen Ränder stärken. Auch deshalb verbanden viele den Start der Berliner Ampelkoalition mit der Hoffnung, dass wieder die alte Gleichgewichtslehre zwischen Regierung und Opposition zurückkehrt. Mehrheiten sich mal zum unionsgeführten, mal zum SPD-geführten Lager neigen. Grüne und FDP das Zünglein an der Waage spielen dürfen.
Die Ampel hat mehr noch als die Große Koalition die AfD genährt
Doch das Experiment des Dreierbündnisses Ampel hat dazu geführt, dass diese Koalition die radikale AfD bundesweit noch mehr genährt hat als vorherige Große Koalitionen. Das kommende Wahljahr 2024 könnte gar zum Schicksalsjahr der Bundesrepublik werden, falls fast achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals eine rechtsradikale Landesregierung an die Macht käme. Fachleute halten für die vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistische eingestufte Thüringer AfD Werte um 40 Prozent bei der Wahl im September für möglich, auch wenn sie in Umfragen derzeit darunterliegt.
Nun kann man angesichts des langsamen, aber stetigen Anstiegs der zugleich immer radikaler werdenden AfD nicht der erst seit zwei Jahren regierenden Ampel die Schuld für diese Entwicklung geben. Doch man kann nüchtern feststellen, dass dieses Regierungsbündnis, das als selbst ernannte „Fortschrittskoalition“ startete, nicht als Gegenmittel gegen den Aufstieg der AfD wirkt.
Das „Progressive“ verliert an Attraktivität
Die Lage hat nicht nur mit dem Erscheinungsbild der dauerzerstrittenen Regierung zu tun. Auch das vermeintlich Fortschrittliche jener, die sich als „Progressive“ bezeichnen, hat deutlich an Attraktivität in der Gesellschaft verloren.
Im Gegenteil, es spaltet immer mehr: Mit dem offenen Antisemitismus, der von den amerikanischen Universitäten in die internationale linke Szene schwappt, zeigt sich zudem eine hässliche Fratze der Progressiven und ließ sogar das Bildnis der Klimaikone Greta Thunberg vom Sockel der Säulenheiligen stürzen. Inzwischen möchte eine sehr breite Mitte von progressiven Auswüchsen wie Gender-Schriftbildern und Debatten darüber verschont bleiben.
Union und SPD dürfen der AfD kein billiges Feld überlassen
Bei letzterem Beispiel geht Hessens neue Koalition, die Parteitage von CDU und SPD am Wochenende billigten, sogar weiter als das Söder-Aiwanger-Bündnis in Bayern und will sich sogar mit den Universitäten anlegen, aus denen sich Gendersternchen und Doppelpunkte auf den Weg ins echte Leben machten. Das Reizthema zeigt, dass nicht nur die CDU, sondern auch die SPD der AfD kein billiges Feld überlassen möchte.
Schließlich gilt eine alte Gewissheit noch immer: Wahlen werden in Deutschland in der Mitte gewonnen. Gerade Union und SPD dürfen deshalb nicht einfach hinnehmen, dass ihnen die AfD Teile ihrer alten Kernwählerschaft abspenstig macht. Und Hessen war schon oft Vorreiter für Regierungsbündnisse: sozialliberal, Rot-Grün, zuletzt Schwarz-Grün. Vielleicht taugt das Labor für eine Neuerfindung einer GroKo 2.0 als starke Mitte gegen Rechtsaußen.