Als Robert Schuman vor 73 Jahren den Grundstein für die Entwicklung der heutigen Europäischen Union legte, beschwor der damalige französische Außenminister in seiner Erklärung auch das Ziel der „Vereinigung der europäischen Nationen“. In dieser Tradition ernannten die 27 Staats- und Regierungschefs die Ukraine und Moldau im vergangenen Jahr zu Beitrittskandidaten. In dieser Tradition diskutieren sie derzeit über weitere Schritte im langwierigen Prozess der Erweiterung der Gemeinschaft. Und so steht die Zukunft der beiden Länder, die in die Union drängen, auch beim informellen Treffen der 27 Staatenlenker an diesem Freitag im spanischen Granada ganz oben auf der Agenda.
Es gilt als wahrscheinlich, dass die EU-Kommission in den nächsten Wochen die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen empfehlen wird. Immerhin hat Kiew mit der Behördenchefin Ursula von der Leyen eine prominente Fürsprecherin. „Die Zukunft der Ukraine liegt in unserer Union", wird die Deutsche nicht müde zu betonen. Die Frage, wann diese Zukunft konkret beginnen soll, bleibt offen.
Polen, Rumänien und Bulgarien würden bei Ukraine-Beitritt zu Nettozahlern
EU-Ratspräsident Charles Michel war diese Woche abermals vorgeprescht und hatte eine Mitgliedschaft des kriegsgebeutelten Landes bis zum Jahr 2030 verlangt. Im lächerlichen Machtkampf zwischen den beiden EU-Spitzen scheint jede Seite immer noch eine Schippe drauflegen zu wollen. Hilfreich für eine vernünftige Debatte ist das nicht.
Diese bräuchte es jedoch dringend. Zum einen geht es um unvorstellbare Summen von Geld. Mit mehr als 40 Millionen Einwohnern zählt die Ukraine zu den größten Staaten Europas – und zu den ärmsten. Mit einem Beitritt würden schlagartig EU-Länder wie Polen, Rumänien oder Bulgarien, die derzeit hohe Summen aus Brüssel überwiesen bekommen, zu Nettozahlern.
Abgesehen vom Streitthema Finanzen liegt eine schnelle Mitgliedschaft schon deshalb in weiter Ferne, weil sich die Ukraine aktuell auf dem Schlachtfeld gegen den russischen Aggressor wehrt. Und obwohl in Europa mit dem 24. Februar 2022 eine neue Zeitrechnung angebrochen ist, dürfen nicht alle Tabus fallen.
Es wäre ein Fehler, die EU-Standards aufzuweichen
Es wäre ein fataler Fehler, von den Anforderungen abzurücken, die für EU-Anwärter gelten, sonst steht die Zukunft des Projekts als Ganzes auf dem Spiel. Und im Kampf gegen Korruption, gegen Geldwäsche, gegen den Einfluss von Oligarchen sowie im Umgang mit nationalen Minderheiten sah die EU-Kommission erst vor wenigen Monaten nur „geringe Fortschritte“.
Und so handelt es sich schlussendlich bei den Beitrittsverhandlungen eher um eine politische Geste der Solidarität. Gerade in Kriegszeiten genießt Symbolpolitik einen hohen Wert. Nur sollten die Mitgliedstaaten Vorsicht walten lassen, was weitere Versprechungen gegenüber Kiew anbelangt.
EU sollte eine mutige Vision entwerfen
Vielmehr sollte die Gemeinschaft diesen Moment der Beitritts-Bestrebungen der Ukraine, von Moldau und der Westbalkan-Länder zum Anlass nehmen, sich an den europäischen Gründungsvater Schuman zu erinnern und im eigenen Haus aufzuräumen. Es braucht Reformen, nicht nur beim Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wie selten zuvor sollte die EU eine mutige Vision entwerfen.
Zur Wahrheit gehört, dass die Kriterien zum Beitritt zwar streng sind und man zurecht eine funktionierende Demokratie vorweisen muss. Aber ist man einmal im Club, herrschte bislang beinahe Narrenfreiheit. Niemandem ist bei der Einführung der Standards in den Sinn gekommen, dass Länder Prinzipen wie Rechtsstaatlichkeit auch wieder zurücknehmen oder Korruption zum Teil des Systems machen könnten. Wie verhängnisvoll dieses Versäumnis war, zeigt sich in Polen und Ungarn.