Eine Schonfrist – wortwörtlich spricht man in Frankreich von einem „Gnadenzustand“ – erhalten eigentlich alle französischen Präsidenten direkt nach ihrer Wahl. Wenigstens ein paar Monate hält diese Phase üblicherweise an. Erst dann wird in der Regel die Kritik der politischen Gegner laut.
Emmanuel Macron bekommt keine Schonzeit und das weiß er auch. Zum ersten Mal seit 20 Jahren gelang einem Präsidenten in Frankreich die Wiederwahl – das ist ein Erfolg und eine Hypothek zugleich. Noch während er am Wahlabend versprach, vieles anders und besser zu machen, musste er sich fragen lassen, warum er damit bis zu seiner Wiederwahl gewartet hat. Das betrifft eine stärkere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Sozialpartner in seine Entscheidungen und mehr Respekt vor dem Parlament. Oder auch eine empathischere Haltung gegenüber seinen Landsleuten, die den Abbau sozialer Rechte nicht so klaglos hinnehmen wie die Menschen in vielen anderen Ländern.
Macron hat vor allem Linkswähler in Frankreich verschreckt
Vor allem Linkswähler, die er bei seiner Wahl 2017 noch hinter sich hatte, verschreckte Macron mit seiner Art, oft weitgehend alleine im Hauruck-Verfahren zu entscheiden. Auch seine strikten Gesetze zu Einwanderung und Asyl oder zum Polizeischutz und den Überwachungsmöglichkeiten des Staates gingen sehr weit. Nun deutete er an, nicht mehr so autoritär regieren zu wollen. Er sollte dieses Versprechen einhalten. Denn für das Vertrauen der Menschen in die Politik, das in Frankreich ohnehin sehr gering ist, war dieser Stil fatal. Er überdeckte, dass Macron vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht echte Erfolge vorweisen kann.
Der Präsident hat mit zu verantworten, dass die EU-feindliche Rechtsextreme Marine Le Pen die Stichwahl erreicht und ihr bestes Ergebnis überhaupt erhalten hat. Sie bekam Stimmen von Menschen, die sich von der Pariser Machtzentrale missachtet fühlen und ihre elitären Politiker im Gegenzug selbst verachten. Diese Wählerinnen und Wähler fanden nichts dabei, dass ihre Kandidatin etliche Errungenschaften der Europäischen Union abbauen und Frankreich in ein intolerantes, sich abschottendes Land verwandeln wollte, das mit grundlegenden Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit bricht. Das erschien ihnen besser, als weitere fünf Jahre einen selbstherrlichen Präsidenten zu erleben, von dem sie sich nicht verstanden fühlen.
Die Stimmung in Frankreich ist explosiv
Dass Macron noch am Wahlabend Demut an den Tag legte und all jenen, die nur für ihn stimmten, um Le Pen zu verhindern, die Hand ausstreckte, war eine kluge Geste. Es wird nun darauf ankommen, dass es nicht nur bei der Rhetorik bleibt. Wohlklingende Worte fand der Präsident schon oft, ohne dass Taten folgten. Doch die Stimmung im Land ist explosiv. Sobald er seine geplante Rentenreform erneut angeht, drohen neue Proteste und Blockaden. Frankreich steht vor unruhigen Zeiten.
Für Europa ist Macrons Wahl trotzdem eine hervorragende Nachricht. Die deutsch-französische Achse, die seit Jahrzehnten den Weg für Kompromisse auf europäischer Ebene frei macht, hätte unter Le Pen einen Bruch erlebt. Macron bleibt ein verlässlicher und ehrgeiziger Partner, während eine Präsidentin Le Pen an der Spitze des zweitgrößten Mitgliedslandes die EU massiv geschwächt hätte – gerade gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem sie sich angebiedert hat.
Die Wahl in Frankreich betraf längst nicht nur das Land selbst. Mehr denn je zeigt sich in diesen vom Ukraine-Krieg bestimmten Monaten, dass die Europäer in einer Schicksalsgemeinschaft leben, in der es keineswegs egal ist, wie die Nachbarn entscheiden.