Wenn Frank-Walter Steinmeier jetzt in die Türkei reist, bietet sich ihm eine große Chance: Er könnte beginnen, seine durchwachsene Bilanz im Umgang mit demokratiefeindlichen Staaten aufzubessern. Eben erst hat der Bundespräsident ein neues Buch geschrieben, „Wir“ heißt es, in dem es, sehr bedeutungsschwer, um die Vergangenheit der Deutschen und die Zukunft der Demokratie geht. Doch der Mann im höchsten Staatsamt darf sich gerne noch etwas selbstkritischer fragen, was seinem „Ich“ in der Vergangenheit als Teil der Regierung nicht so gut gelungen ist. Und wo dieses "Ich" es vielleicht an Klartext hat fehlen lassen. Leider aber deutet wenig darauf hin, dass der laute türkische Präsident Erdogan auch nur ein bisschen nervös werden müsste angesichts des leise auftretenden Besuchers aus Deutschland.
Deutliche Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei, wie sie etwa Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck vor zehn Jahren geäußert hatte, wäre aus Steinmeiers Mund eine echte Überraschung. Dabei sieht es heute noch weit schlimmer aus als damals. Erdogan kann inzwischen gesichert dem Lager der antidemokratischen Despoten zugerechnet werden, so wie er die Opposition im eigenen Land unterdrückt, mit Russlands Diktator Putin kumpelt und völkerrechtswidrige Kriege in Syrien und im Irak führen lässt. Auf der internationalen Bühne präsentiert er sich als glühender Unterstützer der radikalislamistischen Hamas, die Israel mit ihrem blutigen Terror vernichten will, empfing Hamas-Chef Hanija eben erst in seinem Palast.
Sein Amt gäbe Bundespräsident Steinmeier genügend Freiheiten
Als Steinmeier 2020 als erstes deutsches Staatsoberhaupt in der zentralen israelischen Holocaust-Gedenkstätte sprach, beteuerte er: "Wir stehen an der Seite Israels! Dieses Versprechen erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt." Es würde sich anbieten, mit seinem türkischen Gastgeber jetzt wenigstens unter vier Augen darüber zu sprechen, was er damit gemeint hat. Sein Amt gäbe ihm dazu mehr Freiheiten als seine frühere Rolle als deutscher Chefdiplomat und SPD-Funktionär.
Zunächst als rechte Hand von Gerhard Schröder, dem Putin-Freund im Kanzleramt, dann in zwei Amtszeiten als Außenminister von CDU-Kanzlerin Angela Merkel, steht Steinmeier für ein gefährlich blauäugiges Verhältnis zu Moskau. Alle Warnungen vor Putins imperialistischen Gelüsten tat er ab, warnte seinerseits im Zusammenhang mit Nato-Manövern in Osteuropa vor "Säbelrasseln", selbst als die Krim bereits annektiert war. So wurde er nach Beginn des russischen Angriffskriegs, inzwischen Bundespräsident, in der Ukraine zur unerwünschten Person.
Auch im Verhältnis zum Iran, der gerade mit Raketen und Drohnen gezeigt hat, dass die jahrzehntelangen Auslöschungsdrohungen gegen Israel nicht etwa Folklore sind, stand Steinmeier für zahnloses Entgegenkommen. Er setzte sich für ein Atomabkommen ein, während die Mullahs ihre Waffenkammern füllten, gratulierte brav zum Jahrestag der blutigen islamistischen Revolution.
Steinmeier, als Kanzlerkandidat 2009 grandios gescheitert, nehmen die Menschen zwar ab, dass er all das, was sich im Nachhinein als falsch herausstellt, aus lauteren Motiven getan hat. Oder aus Naivität. Doch viele wünschen sich, dass er für den Rest der Amtszeit bis 2027 aus seinen Fehleinschätzungen Lehren zieht. In seinem Buch richtig erkannt hat er, dass "Wir" gegenüber Demokratiefeinden entschlossen auftreten müssen. Das gilt aber nicht nur für die im Inneren, sondern auch für jene in Regierungspalästen, im Kreml, in Teheran oder am Bosporus. Und das "Wir" besteht aus ganz vielen "Ichs" – auch dem des Bundespräsidenten.