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Kommentar: Es gibt gute Gründe, auch mit Erdogan zu sprechen

Kommentar

Es gibt gute Gründe, auch mit Erdogan zu sprechen

Simon Kaminski
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    Persönliche Begegnungen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gab es bereits. Erdogans Besuch am Freitag in Berlin gilt jedoch als weitaus brisanter.
    Persönliche Begegnungen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gab es bereits. Erdogans Besuch am Freitag in Berlin gilt jedoch als weitaus brisanter. Foto: Kay Nietfeld, dpa (Archivbild)

    Die Hamas eine „Befreiungsorganisation“, die Legitimität des israelischen Staates „fragwürdig“, das Handeln Israels im Gaza-Krieg „Faschismus“. Was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zuletzt von sich gab, ist unerträglich. Was hingegen fehlte, waren klare Worte zu dem beispiellosen Terror gegen israelische Zivilisten am 7. Oktober. Während Erdogan mit antizionistischen, ja antisemitisch gefärbten Äußerungen die Stimmung in Teilen der türkischen Bevölkerung trifft, ist die Empörung in Berlin groß. 

    Darf man solch einen Politiker empfangen? Ja, man sollte es tun. So bitter der Gedanke sein mag: Dass die Bundesregierung Erdogan nicht ausgeladen hat, ist die angemessene Politik in Zeiten multipler Krisen. Wenn dies ausgerechnet Vertreter der Regierungspartei FDP nicht akzeptieren wollen, dürfte das daran liegen, dass die alarmierende Situation der Partei den Drang der Liberalen erhöht, Kontrapunkte zu setzen.

    Dass die Visite am Freitag weitgehend ohne Pomp und Lametta als Arbeitstreffen geplant wurde, trägt der Lage Rechnung. Es geht darum, den Kontakt zum Nato-Vollmitglied Türkei zu halten. Es geht auch darum, über Möglichkeiten Ankaras zu reden, etwas für die Freilassungen der Geiseln zu tun, die sich in der Gewalt der Hamas befinden und es geht um das große Thema Migration. Alles Punkte, die durch eine Ausladungen Erdogans einer Lösung nicht näherkommen würden.

    Unisono wird "Klartext" des Kanzlers gegenüber Erdogan verlangt

    Nahezu jeder Politiker, der dieser Tage nach dem brisanten Treffen gefragt wird, verlangt von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, mit dem türkischen Präsidenten „Klartext“ zu reden. Scholz trägt ein gewisses Maß an Mitschuld daran, dass ihm Kritiker keine ausreichend klare Ansage zutrauen. Zu oft wirkten seine außenpolitischen Statements übervorsichtig, ja belanglos.

    Seine Vorgängerin Angela Merkel zeigte an guten Tagen, wie so etwas geht. Als ihr Erdogan 2017 persönlich Nazi-Methoden vorwarf, drohte sie unmissverständlich und öffentlich, dass sie türkischen Ministern jegliche Auftritte in Deutschland vor den damals anstehenden Wahlen in der Türkei untersagen werde, wenn es weitere Nazi-Vergleiche gibt. 

    Erdogan weiß um die gewachsene geostrategische Bedeutung der Türkei

    Allerdings konnte auch Merkel nicht verhindern, dass Erdogan seiner Strategie treu blieb: Provozieren, sich querstellen, um dann für ein Einlenken Gegenleistungen zu verlangen – eine Konstante, die nach dem Wahlsieg des Demokratieverächters von 2023 weitere fünf Jahre Realität bleiben dürfte. Zumal Erdogan weiß, dass die geostrategische Bedeutung der Türkei mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine weiter gewachsen ist. 

    Was kann die Antwort darauf sein? Weniger Naivität - mehr Pragmatismus. Deutschland braucht die Türkei und umgekehrt. Die Abhängigkeiten sind gegenseitig. Ankara hat das dysfunktionale EU-Migrationssystem vor dem kompletten Chaos bewahrt und könnte dazu auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag leisten. Das Land befindet sich aber in einer tiefen ökonomischen Krise – ist also auf wirtschaftliche Kooperation mit der EU angewiesen.

    Kritiker monieren einen Ausverkauf der "wertegeleiteten Außenpolitik"

    Kritiker sehen in dem Besuch Erdogans einen Ausverkauf der „wertegeleiteten Außenpolitik“, die Außenministerin Annalena Baerbock zu Beginn ihrer Amtszeit ausgerufen hatte. Allerdings hat offensichtlich auch die Grünen-Politikerin erkannt, dass es den diplomatischen Spielraum gefährlich einengt, wenn man Außenpolitik zu stark moralisch auflädt.

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