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Kommentar: Erdoğan ist zu allem bereit, um noch einmal Präsident zu werden

Kommentar

Erdoğan will noch einmal Präsident werden – und ist zu allem bereit

Margit Hufnagel
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    Ein Mann demonstriert gegen die Verhaftung und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu.
    Ein Mann demonstriert gegen die Verhaftung und Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu. Foto: Francisco Seco, dpa

    Politische Umwälzungen und die roten Linien, die sich dabei herausbilden, sind häufig erst aus einer gewissen Distanz heraus zu erkennen. Je näher das eigene Auge an ein Objekt heranrückt, umso verschwommener ist das Bild. Vielleicht aber werden Historiker eines Tages die Zeiten, in denen wir gerade leben, als so etwas wie einen Epochenwandel einordnen. Geprägt nicht nur von einer schier atemlos machenden Aufgeregtheit, sondern schrittweise untergraben von einer Gruppe Mächtiger, die vor allem eines gemein hat: die eigene Ruchlosigkeit.

    Die ordnende Kraft des Rechts wird von ihnen ersetzt durch massive Angriffe auf die Demokratie (und sei sie noch so bruchstückhaft). Die eigene Bedeutung und Geltungssucht stehen über dem Gemeinwesen. In den USA hat ein Mann die Macht übernommen, der einem Autokraten nach dem Mund redet und sich im eigenen Land selbst über die Justiz hinwegsetzt. In Russland berauscht sich ein Präsident an seinen Unterwerfungsfantasien. Teheran, Peking, Brasilia, Neu-Delhi, Budapest, Belgrad – überall sitzen Männer, die die Gunst der Stunde für sich nutzen. Wen soll es da noch wundern, dass auch Recep Tayyip Erdoğan den Geist unserer Zeit für sein dreistes Vorgehen zu gebrauchen weiß.

    Erdoğan bestimmt, wen die Menschen zu wählen haben

    Gerade einmal notdürftig kaschiert er mithilfe der Gerichte, warum er seinen größten politischen Herausforderer aus dem Weg räumt: Ekrem İmamoğlu ist ihm einfach zu erfolgreich. Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters ist der Tiefpunkt einer Entwicklung, die schon vor Jahren begonnen hat und von der viele hofften, dass sie doch noch umkehrbar sei: Die Türkei hat sich unter Erdoğan auf absehbare Zeit endgültig vom demokratischen Weg verabschiedet. Aus Angst vor dem eigenen Volk und dem persönlichen Bedeutungsverlust lässt er seinen Konkurrenten ausschalten. Damit werden die Wahlen in einem Land, das noch immer in die EU strebt, endgültig zur Farce und landen auf Russland-Niveau. Nicht mehr die Menschen bestimmen, wer sie regieren soll. Nein, ein Autokrat bestimmt, wen die Menschen zu wählen haben.

    Der Hoffnungsträger, der Erdoğan einmal war – man kann sich kaum noch daran erinnern – hat sich damit auf alle Zeit in Luft aufgelöst. Allein: Es wird ihn nicht schmerzen. So viele Krisen hat er schon überstanden, so viele Proteste niedergeschlagen, am Ende ging er stets als Sieger hervor. Verehrt von seinen Anhängern, gebraucht vom Ausland. Kaum ein Land hat es in den vergangenen Jahren so erfolgreich geschafft, die geopolitischen Verschiebungen zu seinen Gunsten zu nutzen. Da sieht man selbst über die massivsten Regelbrüche lieber hinweg, ernsthafte Konsequenzen muss Ankara kaum fürchten. Erdoğan weiß schließlich, was er tut: Er ließ in den 23 Jahren seiner Präsidentschaft Wahlen annullieren, er ließ die Proteste im Gezi-Park niederschlagen. Heute gibt es für den 71-Jährigen nur noch ein Ziel: Er will sich noch einmal zum Präsidenten küren lassen. Dass er verlieren könnte, ist keine Option. Dafür ist er zu allem bereit.

     „Wer mit Lug und Trug den Willen des Volkes missachtet, dem wird das Volk die entsprechende Antwort geben“, lässt İmamoğlu seine Anwälte aus dem Gefängnis heraus verkünden. Tatsächlich sind die Menschen in der Türkei die Einzigen, die Erdoğan nun noch gefährlich werden können. Nur wenn die Jungen sich erheben und die Alten sie unterstützen, wird der autoritäre Kurs der Regierenden noch zu ändern sein. Leider deutet kaum etwas darauf hin. Zwar gibt es Proteste, doch wie lange werden sie anhalten? Wird der Sturm heftig genug blasen, um Erdoğan aus dem Präsidentenpalast zu wehen? Man darf darauf hoffen – erwarten sollte man es nicht.

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    6 Kommentare
    Richard Markl

    Selten liest man etwas, dass es so auf den Punkt bringt! Respekt! Wenige Abrundungen: Zu den Männern, die die Gunst der Stunde nutzen, gehört auch Netanjahu. Auf sein aktuelles Vorgehen im Gaza und im Westjordanland hätte die Bidenregierung noch etwas mäßigend einzuwirken versucht, aber jetzt wird er von Trump sogar noch angefeuert. Die türkische Opposition steht alleine. Musk hat auch noch X-Accounts von oppositionellen Politikern abgestellt. Nette Hilfestellung unter autokratischen Freunden. Die Presse kann sowieso nicht mehr frei berichten. Jetzt nimmt man der Opposition letzte Möglichkeiten sich zu artikulieren. Dann noch: Erdogan will wohl nicht nur die nächste Wahl unbedingt gewinnen. Diktatoren können nicht einfach in Rente gehen und Bücher lesen. Erst müssen sie absichern, dass nach ihrer Abdankung niemand kommt um ihnen für ihr korruptes und kriminelles Regime die Rechnung zu präsentieren. Ganz schwieriges Unterfangen. Traut sich kaum jemand zu. Die Ärmsten!

    Franz Xanter

    Für mich ein sehr zutreffender Kommentar. Nicht zu verstehen ist jedoch, was sich insbesondere auch deutsche Politiker diesbezüglich leisten. Höflich ausgedrückt, indirekte Unterstützung für Erdogan. Anders ist die Tatenlosigkeit nicht zu erklären. Unterstützung kommt aber auch von der türkischen Bevölkerung im Ausland wie sich bei den letzten Wahlen zeigte. Sicher im Ausland, kann man natürlich die autokratische Linie Erdogans unterstützen. Bleibt nur das eigene türkische Volk in der Türkei. Zu hoffen ist, dass sich diesmal dies entsprechend aufrafft und notfalls energisch die politische Richtung in persona Erdogans ändert!

    Maria Reichenauer

    Herr Xanter, was sich deutsche Politiker leisten in der Causa Erdogan, ist der Tatsache geschuldet, dass Erdogan uns in der Hand hat und unkontrolliert Geflüchtete in die EU strömen lässt, sobald die EU und auch Deutschland aufmucken. So ist es eben, wenn man auf Druck der Rechtsextremen Deals mit Autokraten macht und sie auch noch mit regelmäßigen Zahlungen belohnt. Aber das will das Volk doch, dass man mit Staaten außerhalb der EU Verträge schließt, damit sie Geflüchtete zurückhalten. Das ist nicht nur mit der Türkei problematisch, sondern auch mit Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko und vielen anderen Staaten auf dem afrikanischen Kontinent. Selbst beim Asyl ist Deutschland sehr pingelig, wenn es um Menschen aus der Türkei geht. Sie sind doch auch immer dafür, dass man Gesetze so anpasst, dass Deals möglich werden, dass man Menschen an den EU-Grenzen zurückweist usw. Also warum beklagen Sie sich jetzt über die wachsweiche Haltung unserer Politiker?

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    Franz Xanter

    Zur Vervollständigung und Richtigstellung: "So ist es eben, wenn man auf Druck der Rechtsextremen Deals mit Autokraten macht und sie auch noch mit regelmäßigen Zahlungen belohnt." Ihre Feststellung muss dahingehend korrigiert werden, dass die damalige Frau Merkel diesen Deal mit Erdogan abschloss. Weiterhin, es gibt immer Zwei: Einen der sich in die Abhängigkeit begibt und Einen der dies ausnutzt. Zusammenfassend lässt sich aber der gesamte Vorgang auf die Aussage reduzieren, dass nicht genügend Konsequenz gezeigt wird. Angeblich immer alles nicht möglich, rechtlich nicht praktikabel oder umsetzbar oder moralisch nicht vertretbar. Bei näherem beleuchten dann jedoch die Erkenntnis, es würde trotzdem gehen.

    Maria Reichenauer

    Herr Xanter, Sie reden sich raus. Ob Frau Merkel oder die Ampelregierung ein Abkommen zum Zurückhalten von GGeflüchteten schließt bzw. geschlossen hat, ist völlig irrelevant. Tatsache ist, dass man sich mit solchen Abkommen von Autokraten abhängig macht und nicht groß aufmucken kann, wenn einem in dem Land etwas nicht passt. Tatsache ist aber auch, dass Deutschland weniger Geflüchtete haben will. Wo möchten Sie denn Konsequenz sehen? Sie bleiben immer im Ungewissen, Farbe bekennen wollen Sie nicht. Was möchten Sie gegen die Türkei unternehmen? Wie sieht Ihre Konsequenz aus? Konkret bitte, keine Rumschwurbelei.

    Martin Dünzl

    Leider stellt die Türkei mit der zweitgrößten Armee in der NATO einen wichtigen Pfeiler in der der Sicherheitsarchitektur dar und ist zudem ein weltweit bedeutender Drohnen-Produzent. Kritik am Umgang mit Minderheiten (inkl. der türkischen Angriffe auch die syrischen Kurden) und Frauen im eigenen Land sind aber mehr als angebracht. Bleibt die Frage, ob die überfällige Kritik am Autokraten Erdogan besser vor oder hinter den Kulissen wirkt! Im Übrigen sehe ich hier auch besonders die Auslandstürken aus dere bequemen Position in der Pflicht - dazu ein guter Kommentar gestern in den Tagesthemen von Murad Bayraktar: https://www.ardmediathek.de/video/tagesthemen/tagesthemen-22-15-uhr-24-03-2025/das-erste/Y3JpZDovL3RhZ2Vzc2NoYXUuZGUvNmJhNjNlZDctM2NhMi00MTlhLWIzZTctMTE3M2NlZDhjZmQ4LVNFTkRVTkdTVklERU8

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