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Kommentar: Ein Krieg und viele Krisen: Die EU hat ein hartes Jahr hinter sich

Kommentar

Ein Krieg und viele Krisen: Die EU hat ein hartes Jahr hinter sich

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    Die EU hat ein schweres Jahr hinter sich.
    Die EU hat ein schweres Jahr hinter sich. Foto: Zhang Cheng, dpa

    Die unzähligen Politiker, Diplomaten und Beamten, die sonst das Europa-Viertel beleben, waren bereits ausgeschwirrt in ihre Heimatländer, die Machtzentrale in der belgischen Hauptstadt wirkte an jenem Freitagabend so verschlafen wie immer zum Start des Wochenendes. Doch da hatte das Drama längst begonnen im Brüsseler Ableger des EU-Parlaments, wo Polizisten Büros versiegelten, nahegelegene Wohnungen durchsuchten und erste Verdächtige festnahmen. Der mutmaßliche Korruptionsskandal um die mittlerweile abgesetzte Vizepräsidentin Eva Kaili, der vor knapp zwei Wochen erstmals an die Öffentlichkeit kam, erschüttert seitdem die Europäische Union. Und Beobachter wie Betroffene schwanken zwischen Wut, Fassungslosigkeit und Verzweiflung: Was denn noch? Wie viel mehr Krise kann die EU dieses Jahr ertragen? Aus einer ganzen Fülle an schwierigen Jahren, die die Staatengemeinschaft in der Vergangenheit erlebte, sticht 2022 tatsächlich als besonders schwierig heraus. Es herrscht wieder Krieg. 

    Der kam zwar nicht erst am 24. Februar zurück nach Europa, aber er gilt nun – anders als zuvor – auch als Angriff auf die EU und alles, wofür sie steht: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit. Der Überfall Moskaus auf die Ukraine mit dem Ziel, das Land in seiner Existenz zu vernichten, bedeutete eine tiefgreifende Zäsur in der europäischen Geschichte. Obwohl alte Sicherheiten schon zuvor nicht mehr so galten, wie das häufig in der deutschen Wahrnehmung dargestellt wird, stand die EU ohne Zweifel vor einem Härtetest.

    Die EU ist eine Kompromissmaschine

    Ausgerechnet von Russlands Aggressor Wladimir Putin wurde die Gemeinschaft einerseits an ihre liberalen Werte erinnert, die die Gemeinschaft zumindest in der Theorie zusammenhalten sollen, und andererseits daran, dass sie ein Friedensprojekt ist, auch wenn dieses Narrativ oft überstrapaziert wird. Und tatsächlich, die Europäer reagierten mit einer beispiellosen Geschlossenheit. Das war zunächst beeindruckend, zeigte die Einigkeit doch, wie viel Macht das Projekt ausstrahlen kann, wenn es zusammensteht und sich nicht im Gewühl der Krisen verliert oder aufgrund von inneren Streitigkeiten ständig gegen Auflösungserscheinungen ankämpfen muss.

    Doch spätestens nach fünf Sanktionspaketen gegen den Kreml bröckelte das Gebilde. Die Fliehkräfte waren wieder da. Wie unter dem Brennglas zeigte ein Sondergipfel nach dem anderen, dass nationale Interessen eben doch den europäischen Solidaritätsgedanken zu übertrumpfen schienen wie etwa in der Energiepreiskrise. Oder nicht? Manche Brüssel-Liebhaber mögen gerne mit Idealismus und Pathos die EU-Flagge schwenken und am Ende tief enttäuscht reagieren angesichts einzelner Korruptionsfälle, Streits zwischen den Mitgliedstaaten, zu langsame, zu zögerliche Beschlüsse. Am Ende aber geht es bei den 27 Partnern, die jeweils ihre eigenen Sorgen plagen und bestenfalls das Wohl ihrer Wähler im Blick haben, ganz nüchtern um Mittelwege. Der monströse Apparat ist das Musterbeispiel einer Kompromissmaschine. 

    Erpressungsversuche im nationalen Interesse

    Erschwerend kam 2022 dazu, dass auch im Kreis der 27 Ungarns Chef-Störenfried Viktor Orban seine Spielchen auf die Spitze trieb. Dass eine große Mehrheit der EU-Staaten sich gerade erst darauf verständigte, für Budapest vorgesehene Milliardenzahlungen aus dem europäischen Gemeinschaftshaushalt einzufrieren, gehört jedoch zu den wenigen guten Nachrichten dieses Jahres. Denn seitdem ist die EU nicht nur wieder handlungsfähig. Die Entscheidung hat auch gezeigt, dass das Gezerre um strittige Punkte unerträglich ist, wenn bei wichtigen Beschlüssen Einstimmigkeit vorausgesetzt wird. Das nutzen Länder regelmäßig für Erpressungsversuche im nationalen Interesse. Zu den Beispielen gehören nicht nur die Auseinandersetzungen um die Sanktionen gegen Russland.

    Schon jetzt ist offensichtlich, wie die EU in eine Migrationskrise stolpert. Lösungen bei dem leidigen Thema stehen jedoch seit Jahren aus, wodurch die Herausforderung der illegalen Einwanderung immer wieder auf der Gipfel-Agenda der 27 Staats- und Regierungschefs landet. Dabei müssten die Partner darauf setzen, dass die EU nicht gleich auseinanderfällt, wenn ein Land mal überstimmt wird, selbst wenn es Deutschland trifft, wie viele beim umstrittenen Gaspreisdeckel bis zuletzt befürchteten. Willkommen wäre Vertrauen in die demokratische Mehrheitsvernunft der Europäer. 

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