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Ein Jahr Ukraine-Krieg: Die Welt steht vor einer Richtungsentscheidung

Kommentar

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Die Welt steht vor einer Richtungsentscheidung

Margit Hufnagel
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    Einschusslöcher haben eine Wand in Irpin durchlöchert. Der berühmte Straßenkünstler TvBoy hat darauf eine Taube in den ukrainischen Nationalfarben mit einem Olivenzweig gemalt.
    Einschusslöcher haben eine Wand in Irpin durchlöchert. Der berühmte Straßenkünstler TvBoy hat darauf eine Taube in den ukrainischen Nationalfarben mit einem Olivenzweig gemalt. Foto: Efrem Lukatsky, dpa

    Was soll man über einen Menschen sagen, der es geschafft hat, die halbe Welt in eine schmerzhafte Unordnung zu stürzen? Der den Frieden in Europa zerstört hat? Der Folter als Mittel seiner Politik einsetzt? Der die ukrainische Erde mit dem Blut von Zivilisten tränkt? Der junge Männer verheizt, als wären ihre Leben nichts weiter als billiges Kanonenfutter? Der die Wirtschaft ins Schlingern bringt und Energieflüsse versiegen lässt? Der Entwicklungsländer vom dringend benötigten Weizen-Nachschub abschneidet? Ist er ein Monster? Ein Verrückter? Ein Größenwahnsinniger? Egal, wie die Geschichte eines Tages über Wladimir Putin urteilen wird, gnädig wird sie nicht sein mit dem russischen Präsidenten. Der Mann, der nach einer langen Phase des Friedens Leid und Zerstörung zurückgebracht hat ins Leben so vieler Menschen, hat sich mit dem Überfall auf sein Nachbarland einen Platz in den Geschichtsbüchern gesichert.

    Und doch könnte noch eine ganz andere Geschichte geschrieben werden, die über diesen "Wladimir, den Schrecklichen" hinausgeht. In diesen Tagen, da sich der Beginn des Krieges zum ersten Mal jährt, geht es um viel mehr als um die Gefechtslinien auf den Schlachtfeldern, um mehr als um die kurzfristige Bilanz eines Eroberers. Es geht um die Frage, in welcher Welt wir leben werden. Wird der dreiste Versuch eines Präsidenten belohnt werden, der die Zeit zurückdrehen will und nach seinem Gusto Grenzen verschiebt? Nicht allein die Not der Ukrainerinnen und Ukrainer ist es, die die Verbündeten aus EU und Nato zusammenrücken lässt, sondern vor allem die übermächtige Sorge, dass wir gerade alle Zeuge eines gefährlichen Kipp-Punktes sein könnten: Siegt die Stärke des internationalen Rechts – oder wird sich das Recht des Stärkeren diesmal durchsetzen und damit alle Regeln, die für Sicherheit und Wohlstand gesorgt haben, vom Tisch fegen?

    In der Ukraine werden die Weichen dafür gestellt. Und damit ist das, was wir beobachten, ein großer europäischer Krieg. Raushalten ist schlicht unmöglich, der russische Präsident kann die Geister, die er rief, nicht mehr loswerden. Die Vorstellung, dass man Putin nur weit genug entgegenkommen müsste, ihm eine gesichtswahrende Lösung anbieten, verkennt, dass es nach allem, was wir vermuten können, die Verzagtheit des Westens im Ringen um die Krim war, die den russischen Präsidenten zu seinem nächsten Schritt ermutigt hat.

    Hitlers "Blitzkrieg" dauerte sechs lange Jahre

    Als der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am vergangenen Wochenende bei der Münchner Sicherheitskonferenz auf die Bühne trat, zog er einen Vergleich, der nur auf den ersten Blick gewagt scheint. Er bat die Anwesenden, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, weil die Alliierten des Kämpfens müde geworden waren. Die Weltordnung hätte mit der, in der wir heute leben, wohl nur wenig zu tun. Damals war es Russland, das sich den Nazis in den Weg stellte. Heute ist es Putin, der von einem Blitzkrieg faselt. Hitlers "Blitzkrieg" dauerte übrigens sechs quälende Jahre. Jahre, die den Deutschen noch heute in den Knochen sitzen.

    Es waren die Abscheu vor Hitlers Verbrechen und die Aussicht auf eine Freiheit im Wohlstand, die aus den Deutschen eine Friedensgesellschaft gemacht haben. "Nie wieder Krieg" war eines der Gründungsideale der Republik, es hat sich tief in die DNA eingebrannt. Doch die Losung "Schwerter zu Pflugscharen", die sich die Friedensbewegung gegeben hat, verliert dann ihre Strahlkraft, wenn eine Atommacht beginnt, mit dem Feuer zu spielen. Dieser Realitätsschock war es, der für ein politisches und gesellschaftliches Erdbeben gesorgt hat. Der Krieg, er ändert nicht nur die Zukunft, er ändert auch die Vergangenheit oder zumindest den Blick auf sie. 

    Krieg in der Ukraine: Die Deutschen haben ihre Sicht auf alles Militärische geändert

    Wäre die Lage nicht so ernst, man könnte das, was gerade geschieht, fast für eine bizarre Volte des Schicksals halten. Als das Meinungsforschungsinstitut Forsa die Deutschen kürzlich nach ihrer Haltung zur Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine fragte, offenbarte sich ein tiefer Graben, der durch die Republik verläuft. 53 Prozent der Befragten halten es für richtig, dass Berlin Leopard-Panzer nach Kiew schickt, 39 Prozent sind dagegen. Dass sich die Gesellschaft schwertut in dieser Frage, ist keineswegs überraschend. Aufhorchen lässt eine ganz andere Zahl: Die größte Zustimmung besteht unter den Anhängern der Grünen - mit 83 Prozent. Und nein: Das ist kein Druckfehler.

    Beim bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung protestierten Teilnehmer mit einem Banner mit der Aufschrift "Krieg und Militär lösen keine Probleme".
    Beim bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung protestierten Teilnehmer mit einem Banner mit der Aufschrift "Krieg und Militär lösen keine Probleme". Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

    Der Krieg in der Ukraine hat eben vieles durcheinandergewirbelt. Er hat aus einem ukrainischen Komiker einen standhaften und gefeierten Präsidenten geformt. Er hat den "David" Ukraine in Stellung gebracht gegen den "Goliath" Russland. Putins Bomben scheinen nicht nur die ukrainischen Städte zu treffen, sondern auch so manche Gewissheit. Die Angst, dass der Krieg eines Tages Deutschland erreichen könnte, greift mit kalten Händen um sich. Es sind gar nicht nur die ganz Alten, es sind auch all jene in den mittleren Jahren, die sich noch gut erinnern können, wie das war im Kalten Krieg, als ein eiserner Vorhang die Blöcke teilte und die Sorge, dass "der Russe" mit donnernden Kanonen vor der eigenen Tür stehen könnte, gegenwärtig war. Im Osten Deutschlands ist es das besondere Verhältnis zu Moskau, das sich viele weigern, auf den Trümmerhaufen zu werfen. Dass ausgerechnet heute, mehr als 30 Jahre nach dem vermeintlichen Ende der Block-Konfrontation, deutsche Panzer das Leben von russischen Soldaten beenden werden, ist für viele Menschen in

    Die Zeitenwende könnte die Kanzlerschaft von Olaf Scholz prägen

    Daneben stehen die, die fast verzweifeln an der Zögerlichkeit der Entscheidungsträger, die es kaum ertragen können, dass der Westen immer nur so viel gibt, dass die Ukraine gerade so den Kopf über Wasser halten kann. Was wollen wir für die Ukraine? Wie weit werden wir gehen? Fragen, die Bundeskanzler Scholz von sich schiebt. Nur widerwillig lässt er sich in die Rolle des Führungsspielers drängen. Ist das ein Zeichen von Schwäche? Oder eher von Stärke, dass er sich nicht drängen lässt? Beantwortet wird auch diese Frage vielleicht erst in den Geschichtsbüchern der nächsten Generation. Und dort hinein wollen wir hier, am Ende dieser Betrachtung, noch einmal schauen. 

    Scholz traf sich im Februar in Frankreich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. In der Mitte: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich.
    Scholz traf sich im Februar in Frankreich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. In der Mitte: Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich. Foto: Sarah Meyssonnier, dpa

    Jede Kanzlerschaft wird von einem bestimmten Großereignis, einer wichtigen Entscheidung geprägt. Bei Helmut Kohl war das die deutsche Einheit, bei Gerhard Schröder die Hartz-Reform, bei Angela Merkel die Flüchtlingskrise. Olaf Scholz war noch kein halbes Jahr im Amt, da war schon klar, was eines Tages sein bestimmendes Momentum sein wird: Der Krieg in der Ukraine und die Zeitenwende werden einmal den Blick auf sein politisches Handeln prägen. Vielleicht wird dort dann stehen, dass diese Zeitenwende bislang Putins größte politische Niederlage war – glaubte er doch, die Deutschen in der Tasche zu haben.

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