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Kommentar: Diese Türkei hat in Europa nichts verloren

Die 2005 begonnenen Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sind längst zur Farce geraten. Die Türkei kehrt Europa rasend schnell den Rücken und ist dem Kommando eines Autokraten unterworfen, der von den demokratischen Grundwerten der EU nichts wissen will und nun sogar deutsche Staatsbürger als Geiseln nimmt. Diese Türkei hat in der EU nichts verloren. Ein Beitritt ist auf unabsehbar lange Zeit ausgeschlossen. Wobei man hinzufügen muss: Nicht nur wegen Erdogan. Dessen Abmarsch in eine Art Präsidialdiktatur hat zwar die Gräben zwischen Europa und der Türkei unüberwindbar vertieft. Aber die von SPD und Grünen über viele Jahre hinweg verfochtene Strategie, die Türkei in nicht allzu ferner Zukunft in die EU aufzunehmen, war von Anfang an auf Sand gebaut. So oder so nämlich würde die Aufnahme eines so großen, muslimischen Landes die Union finanziell überfordern und ein möglichst geschlossen handelndes Europa vollends unmöglich machen.

Erdogan hat den Bogen weit überspannt

Spätestens jetzt, da sich die Türkei unter Erdogan von Europa entfernt, sollte eigentlich jedem realistisch denkenden Politiker klar sein: Ein Beitritt zur EU hat sich erledigt. Und es haben jene recht behalten, die eine „privilegierte Partnerschaft“ für sinnvoller hielten. Wozu also noch über einen Beitritt verhandeln, zumal Erdogan und seine Claqueure Deutschland mit maßlosen Attacken überziehen und die türkischstämmigen Deutschen für sich zu instrumentalisieren suchen? SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat diese Frage im TV-Duell glasklar beantwortet und den Abbruch der Verhandlungen gefordert. Das war insofern überraschend, als sich Schulz damit über Nacht von der langjährigen Linie der SPD verabschiedete – gewiss auch in der Hoffnung, mit dieser populären Parole noch punkten zu können. Da die sichtlich überraschte Kanzlerin diesen Vorstoß unterstützte, ist nun neue Bewegung in die Türkei-Debatte gekommen.

Bisher hat Merkel, im Einklang mit ihrem Außenminister Gabriel (SPD) und der EU-Kommission, ein abruptes Ende der Verhandlungen abgelehnt. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Berlin will mit dem Nato-Mitglied Türkei im Gespräch bleiben, die andere, die oppositionelle Türkei nicht entmutigen und Erdogan keinen Vorwand liefern, in die Opferrolle zu schlüpfen. Auch die Angst vor einer Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens spielt da mit hinein. Andererseits hat Erdogan den Bogen mit der willkürlichen Inhaftierung von Deutschen so weit überspannt, dass Merkel den Vorstoß von Schulz nur um den Preis des Vorwurfs der Leisetreterei hätte ablehnen können. Also wird Deutschland, und das ist richtig so, seine Gangart Ankara gegenüber verschärfen und in der EU die Chance eines formellen Abbruchs ventilieren.

Erdogan in die Schranken weisen

Einfach wird das nicht. Der Beschluss muss einstimmig erfolgen; bisher hat nur Österreich für einen Schlussstrich plädiert. Die EU-Kommission spielt auf Zeit. Greift Deutschland zur Brechstange und dringt – das würde zumindest zur Aussetzung der Verhandlungen reichen – auf eine Mehrheitsentscheidung, fliegen in der EU die Fetzen. Auch ein Kanzler Schulz stünde vor diesen Problemen.

Trotzdem muss Europa Mittel und Wege finden, um diese Farce zu beenden. Welcher Bürger soll noch begreifen, dass der Beitritt vom Tisch ist und weiter „Vorbeitrittshilfen“ in Milliardenhöhe in die Türkei fließen? Und was hindert Brüssel und Berlin daran, den wirtschaftlichen Druck auf Erdogan mit Sanktionen zu erhöhen? Vonnöten ist eine konsequente Haltung Europas, die Erdogan in die Schranken weist, ohne damit die Brücken zum großen Nachbarn Türkei völlig einzureißen.

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