Helmut Schmidt war kein Mann, der zur politischen Schwärmerei neigte. Im Gegenteil. Beim deutschen Sozialstaat aber machte der Altkanzler eine Ausnahme. Der sei, so befand er einst, die größte Kulturleistung des 20. Jahrhunderts.
Menschen im Alter, bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit abzusichern, ist politisch keine Kleinigkeit. Der soziale Frieden und der Wohlstand, den Nachkriegsdeutschland sich mit den Jahren erarbeitet hat, gründen auch auf dem Fundament einer funktionierenden Solidargemeinschaft. Das Auffangnetz für Menschen in Notlagen ist in der Bundesrepublik enger geknüpft als in den meisten anderen Industrieländern und der Etat für Soziales im Bundeshaushalt der mit Abstand größte Posten. Gut 170 verschiedene Sozialleistungen vom Kinder- und Elterngeld über die Mütterrente und das Bürgergeld bis zur Behindertenhilfe kennt unser Sozialrecht. Sie alle so zu erhalten, dass Schmidts These auch noch für das 21. Jahrhundert gilt, ist allerdings ein Ding der Unmöglichkeit.
Die Beiträge zu den Sozialkassen steigen
Das hat, natürlich, mit der demografischen Entwicklung zu tun. Zum Glück werden Menschen heute deutlich älter als noch vor 50 oder 60 Jahren, aber sie beziehen eben auch entsprechend länger ihre Renten und müssen umso häufiger zum Arzt oder gepflegt werden. Deshalb, vor allem, steigen die Beiträge zu den Sozialkassen und die Milliardenzuschüsse aus den Steuerkassen gleich mit.
Ganz stoppen lässt sich diese Entwicklung nicht – wenn Arbeit in Deutschland aber bezahlbar bleiben und der Bundeshaushalt nicht völlig aus den Fugen geraten soll, wird die nächste Bundesregierung eine Reihe empfindlicher Entscheidungen treffen müssen. Die Ampelkoalition hat dazu weder den Willen noch die Kraft. Im Gegenteil: Sie bläht den Sozialstaat mit dem deutlich erhöhten Bürgergeld und der geplanten Kindergrundsicherung noch weiter auf.
Die Zeiten, in denen sich neue Leistungen wie die Rente mit 63 oder das wiederbelebte Baukindergeld wie selbstverständlich finanzieren ließen, sind vorbei. Deutschland braucht in Anlehnung an Gerhard Schröders Sozialreformen der Agenda 2010 jetzt eine Agenda 2030, um wirtschaftlich wettbewerbsfähig und sozial leistungsfähig zu bleiben. Ein Rentensystem, das Beschäftigte trotz einer wachsenden Fachkräftelücke und einer steigenden Lebenserwartung mit spätestens 67 Jahren in den Ruhestand entlässt, überfordert sich auf absehbare Zeit selbst – von der privilegierten Versorgung der Beamten gar nicht zu reden. Ein Gesundheitswesen, das die Versorgung mit Hausärzten nur noch eingeschränkt sichern kann, hat nicht nur ein finanzielles Problem, sondern auch ein strukturelles. Und ein Bürgergeld, das um zwölf Prozent angehoben wird, schafft keine Anreize, sich um einen Job zu bemühen, sondern mindert diese.
Andere Länder beneiden Deutschland um seinen Sozialstaat
Im Gefühl, sich praktisch alles leisten zu können, ist der deutsche Sozialstaat immer noch fürsorglicher und damit immer noch teurer geworden. Umso schmerzhafter werden die nächsten Operationen ausfallen müssen. Eine Rente mit 69 könnte in ein solches Reformportfolio gehören, disziplinierende Maßnahmen wie Selbstbeteiligungen und Beitragsrückerstattungen für besonders sparsame gesetzlich Krankenversicherte oder eine verpflichtende, staatlich geförderte private Zusatzvorsorge für den Pflegefall. Populär ist das alles nicht – aber nötig. Abgesehen vielleicht von Österreich und einigen skandinavischen Ländern beneidet uns die ganze Welt um unser System der sozialen Absicherung. Wohlstand und sozialen Frieden aber sichert es nur, wenn es auch bezahlbar bleibt.