Züge, die nicht fahren, Flugzeuge, die nicht fliegen, Mülltonnen, die nicht geleert werden, Kliniken, die nur noch im Notbetrieb arbeiten können: Einige Gewerkschaften in Deutschland haben die Kraft und die Macht, mit ihren Streiks Bereiche des öffentlichen Lebens zu treffen, die auf Neudeutsch gerne der kritischen Infrastruktur zugerechnet werden, also Betriebe, die eigentlich immer funktionieren müssen: Wasserwerke, Stromversorger, Krankenhäuser, Internet-Provider oder eben auch die Bahn.
Pflicht zur Schlichtung in kritischen Branchen?
Den Schienenverkehr für sechs Tage weitgehend lahmzulegen, fällt Gewerkschaftschef Claus Weselsky und seinen Lokführern nicht allzu schwer. Sie sind bestens organisiert, erfahren im Streiken und können mit vergleichsweise geringem Aufwand großen Schaden anrichten. Auf einen Lokführer, der streikt, kommt ein ausgefallener Zug mit Hunderten von gestrandeten Passagieren. Das trifft ein Land ins Mark und wirft zwangsläufig die Frage nach der Verhältnismäßigkeit eines solchen Streiks auf. Eine Frage, die bislang auch das Bundesarbeitsgericht nicht zweifelsfrei klären konnte.
Der Vorschlag aus der Union, in bestimmten Branchen vor einem Streik zwingend ein Schlichtungsverfahren zu verlangen, ist deshalb ebenso interessant wie aussichtslos. Interessant, weil eine Pflicht zur Schlichtung verhindern würde, dass eine Gewerkschaft wie die der Lokführer für ihren Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen die ganze Republik in Geiselhaft nimmt, noch ehe wirklich über ihre Forderungen und die Angebote der Arbeitgeberseite verhandelt wurde. Aussichtslos, weil die Koalition, die eine solche Reform des Streikrechts durchsetzt, erst noch gewählt werden müsste. In welcher Konstellation auch immer Sozialdemokraten mit am Regierungstisch sitzen, ob gegenwärtig in der Ampel oder nach der Wahl 2025 wieder in einem Bündnis mit der Union: Das Schleifen von Arbeitnehmerrechten wäre so ziemlich das Letzte, auf das die alte Arbeiterpartei SPD sich einließe.
Der Mindestlohn war ein ordnungspolitisches Foul
Das Streikrecht ist ein hohes, durch das Grundgesetz abgesichertes Gut und für eine freie Gesellschaft geradezu konstitutiv. Dass Deutschland sich nach dem Krieg einen Wohlstand von nie dagewesenem Ausmaß erarbeiten konnte, liegt auch an der Fähigkeit von Gewerkschaften und Arbeitgebern, ihre Probleme selbst und ohne Zuhilfenahme des Staates zu lösen. Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft haben über die Jahrzehnte jedenfalls gut funktioniert. Dieses Prinzip hat die Politik zwar auf Betreiben der SPD mit einem groben ordnungspolitischen Foul durchbrochen, indem sie 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat. Zu größeren tarifpolitischen Verwerfungen hat aber auch das bislang nicht geführt.
Streiks, wie Claus Weselsky sie führt, rütteln jedoch an den Säulen der Tarifautonomie, weil sie zumindest in ihrer aktuellen Dimension nicht mehr verhältnismäßig sind. Natürlich muss eine Gewerkschaft, wenn sie etwas erreichen will, die Arbeitgeber an einer empfindlichen Stelle treffen. Das aber entbindet sie nicht von der Pflicht, das Gemeinwohl im Auge zu behalten. Seit November nicht mehr verhandeln, dafür aber schon den zweiten mehrtägigen Streik binnen weniger Wochen ausrufen: Kein Wunder, dass die Rufe nach einer stärkeren Regulierung da lauter werden. Mit Vernunft und Verhandlungsbereitschaft hätte Weselsky sich diese Debatte leicht ersparen können. Es macht schließlich einen Unterschied, ob eine Gewerkschaft einzelne Betriebe bestreikt, eine Branche oder faktisch das ganze Land.